Der Westen sollte dem Libanon helfen – aber nur unter Reformauflagen
Selten wurde die komplette Inkompetenz einer politischen Klasse so brutal offenbart wie bei der Explosion in Beirut. Die gewaltige Detonation, die eine Stadt in Schutt und Asche legte, stellt den Regierenden im Libanon ein vernichtendes Zeugnis aus. Wer jahrelang 2750 Tonnen der hochexplosiven Substanz Ammoniumnitrat im Hafen lagert, begeht keine Schlamperei. Es ist eine himmelschreiende Fahrlässigkeit, die mindestens 160 Menschen das Leben gekostet hat.
Premierminister Hassan Diab las bei seinem Rücktritt am vergangenen Montag der politischen Elite seines Landes noch einmal die Leviten. „Das System der Korruption ist größer als der Staat", kritisierte Diab. „Es gibt welche, die die Fakten fälschen, vom Aufruhr leben und mit dem Blut der Menschen handeln."
Der Filz aus Vetternwirtschaft, Bestechung und Postenschieberei hat den Libanon seit Jahrzehnten erstickt und ausgeblutet. Die Macht ist nach einem Proporzsystem aus dem Jahr 1943 unter den Konfessionen aufgeteilt. Der Präsident muss immer Christ sein, der Regierungschef Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit. Zugleich hat die politische Führungsschicht, die zum großen Teil aus alteingesessenen reichen Familien besteht, das eigentliche Sagen. Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 ziehen ehemalige Warlords, Clanchefs und Oligarchen die Fäden.
Familienbande gehen über alles. So ist einer der einflussreichsten und meistgehassten Politiker, Ex-Außenminister Dschibran Basil, Schwiegersohn von Präsident Michel Aoun, einem maronitischen Christen. Die Machthaber haben das Land nicht nur ausgebeutet, sondern heruntergewirtschaftet. Die Straßen sind holprig, das Internet lahmt, die Stromversorgung bricht oft zusammen.
Durch enge Verflechtungen zwischen Politik und Banken und eine Art Kredit-Schneeballsystem ist der Libanon zu einem der am stärksten verschuldeten Länder der Welt geworden. Rund 50 Prozent der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, 35 Prozent sind arbeitslos. Wegen der galoppierenden Inflation wissen viele nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen. Die Wut über die soziale Misere und die Gleichgültigkeit der Herrschenden hat viele Libanesen in den vergangenen Monaten auf die Straße getrieben.
Auch eine Übergangsregierung wird dieses System staatlicher Kleptokratrie nicht beseitigen. Das geltende Wahlrecht ist so fest zementiert, dass es unabhängigen Kandidaten und neuen Gruppierungen von vornherein jede Chance nimmt. Die 128 Parlamentssitze werden praktisch nach einem festen Schlüssel auf die politischen Lager verteilt.
Der Libanon ist keine Schattenregion irgendwo in Nahost. Was in dem Land passiert, betrifft auch Deutschland und Europa. 1,5 Millionen Flüchtlinge sind dort untergebracht. Wenn Chaos und Elend überhandnehmen, besteht die Gefahr einer neuen Migrationswelle Richtung Westen.
Ein weiterer Unruhefaktor ist die schiitische Hisbollah. Die Organisation, die über einen politischen und einen militärischen Arm verfügt, gilt als Staat im Staat. Die Partei bestreitet das Existenzrecht Israels. Finanziert wird sie durch das Mullah-Regime in Teheran. In Syrien marschieren ihre Milizen an der Seite der Regierungstruppen von Machthaber Baschar al-Assad und iranischer Verbände.
Natürlich muss die internationale Gemeinschaft dem Libanon helfen. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit und der Solidarität. Aber die 300 Millionen Dollar, die eine Geberkonferenz eingesammelt hat, sollten nicht als Geldüberweisung nach Beirut fließen. Dies würde nur Kräfte stärken, die in die eigene Tasche wirtschaften. Hilfsorganisationen wissen viel besser, wie Medikamente, medizinische Güter und Lebensmittel direkt zu den betroffenen Menschen gelangen.
Mittelfristig reicht dies jedoch nicht. In einer Wiederaufbaukonferenz könnten Europa, Amerika und die reichen Golfstaaten die Weichen für mehr wirtschaftliche und politische Stabilität im Libanon stellen. Das setzt aber milliardenschwere Finanzspritzen voraus, die an Reformbedingungen geknüpft werden müssen. Die Regierung sollte darauf verpflichtet werden, mehr Verteilungsgerechtigkeit, mehr Teilhabe der Bevölkerung und mehr Transparenz zuzulassen. Nur so ließe sich der Sumpf der Korruption trockenlegen. Die Mächtigen und ihre Hintermänner in Beirut haben daran freilich kein Interesse.