Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, bezweifelt, dass die Hygieneregeln in den Schulen alle funktionieren werden. Im Frühjahr habe vieles nur geklappt, weil die Schulen improvisiert hätten.
Herr Meidinger, Sie sind Direktor des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf. Den Namen hört man in diesem Jahr ja oft. Was halten Ihre Schüler von Robert Koch?
Also, ich bin seit vier Tagen im Ruhestand – aber davon abgesehen: Wir machen jedes Jahr am 11. Dezember eine Info-Veranstaltung für unsere Fünftklässler zu Robert Koch. Ich denke mal, dass er unseren Schülern schon vor Corona ein Begriff war. Jetzt natürlich noch viel mehr. Übrigens hatte ich mit Robert Koch in letzter Zeit einige lustige Erlebnisse, als Leute, die ich anrief und mich mit Robert-Koch-Gymnasium meldete, glaubten, ich sei vom Robert-Koch-Institut und natürlich erst mal erschraken.
Tja, in diesen Zeiten will niemand vom Robert-Koch-Institut angerufen werden … Aber im Ernst: Wie sehr macht Ihnen die Corona-Krise zu schaffen? Sind die Schulen in Deutschland gut auf das neue Schuljahr vorbereitet?
Wir müssen mehrere Szenarien im Blick haben. Da gibt es jetzt die kompletten Schulöffnungen zum neuen Schuljahr in allen Bundesländern. Dafür wurden neue Hygienepläne von den Schulministerien erarbeitet, aber es bleibt die Frage, ob diese auch den Praxistest bestehen. Leider hat sich bei der Digitalisierung der Schulen in den Sommerferien bislang wenig getan, so dass wir auch auf den möglicherweise wieder erforderlichen Distanzunterricht nicht gut vorbereitet sind.
Zudem melden sich viele Lehrer mit einem Attest als zur Risikogruppe gehörend erst einmal ab, wie man liest.
So viele, wie mancher meint, sind es wohl nicht, wir schätzen die Gruppe auf etwa sieben bis acht Prozent. Aber klar: Dadurch verschärft sich der ohnehin bestehende Personalmangel. Allein in NRW sind Tausende Lehrerstellen unbesetzt. Außerdem ist eigentlich zusätzliches Personal nötig, weil leistungsschwächere Schüler Zusatzförderung erhalten sollten, um die durch Schulschließungen entstandenen Lücken auszugleichen. Ohne Notmaßnahmen wie etwa die Nachqualifizierung von Quereinsteigern, also Personen ohne Lehramtsausbildung, wird es wohl nicht gehen.
Wie haben sich die Schulen denn nun gegen Corona gewappnet? Die Maskenpflicht ist ja nicht alles, oder?
Es gibt den neuen Hygieneschutzplan der Kultusministerkonferenz, der fordert grob gesagt drei Dinge: Zunächst die Isolierung von Lerngruppen, damit ein mögliches Infektionsgeschehen eingrenz- und kontrollierbar bleibt. Die Klassen sollen nur unter sich Kontakt haben und nicht mit anderen – das bedeutet keine gemeinsamen Pausen mehr und auch keine speziellen Wahlangebote. Das zweite ist ein systematisches Stoßlüften. Das dritte sind Reihentests der Lehrer auf Corona. Alle drei Punkte sind mit großen Fragezeichen zu versehen. In der Theorie sind sie gut, aber in der Praxis nur mit großen Schwierigkeiten umsetzbar. So ist das Konzept der Isolierung der Gruppen in der Oberstufe mit ihren Kursen und dem Wahlunterricht gar nicht zu machen. Stoßlüften geht auch schlecht, schon deshalb, weil ab dem ersten Stockwerk die Fenster aus Sicherheitsgründen gar nicht richtig zu öffnen sind. Das sind strenge Bauvorschriften, da kann der Hausmeister nicht einfach die Vorrichtungen wieder abschrauben. Kurzum, einiges an den Hygieneplänen hat schon etwas von Augenwischerei.
Was sagen Sie denn zur Maske? Ist ein Unterricht mit Maske denn überhaupt möglich, und wenn ja, noch sinnvoll?
Natürlich ist die Maskenpflicht nicht angenehm, aber wenn sie dem Gesundheitsschutz dient, müssen wir sie wohl in Kauf nehmen. Falls die Abstandsregel in vollen Klassenzimmern nicht mehr eingehalten werden kann, bleibt eigentlich nur noch die Maskenpflicht als effektiver Infektionsschutz. Wir müssen einfach die richtige Balance finden zwischen dem Gesundheitsschutz und dem Bildungsauftrag. Gerade läuft ja offenbar Nordrhein-Westfalen beim Gesundheitsschutz an Schulen den anderen Ländern den Rang ab: Da gilt auch während des Unterrichts für Lehrkräfte und ältere Schüler die Maskenpflicht, in den anderen Ländern meines Wissens bislang nur in den Pausen. Klar ist, dass die Schulöffnung ein großes Risiko für die Ausbreitung der Pandemie ist. Das hat man etwa in Israel gesehen, wo die Zahlen nach der Schulöffnung wieder exorbitant in die Höhe geschossen sind.
Was passiert denn nun, wenn die Zahlen wieder nach oben gehen? Werden dann gleich alle Schulen dicht gemacht?
Einen kompletten Lockdown wie im Frühjahr wird es hoffentlich nicht mehr geben müssen. Als die Ministerpräsidenten im März erklärt haben, dass die Schulen ab nächsten Montag geschlossen bleiben, hatten wir in den meisten Bundesländern nur den Freitag, um uns und die Schüler darauf vorzubereiten. Inzwischen wären wir besser vorbereitet, aber es bleiben Defizite. Die Schulen müssen sich auf vier mögliche Szenarien vorbereiten: Erste Stufe ist der weitgehende Normalbetrieb, wo wieder alle Schüler jeden Tag Präsenzunterricht haben. Wenn die Infektionszahlen signifikant ansteigen, wird es lokal oder auch überregional wieder zurück zum wöchentlich oder täglich wechselnden Präsenz- und Distanzbetrieb gehen müssen. Kommt es schlimmer, kann es dann in dritter Stufe auch wieder regionale Schulschließungen geben. Im Worst Case ist aber natürlich auch ein nochmaliger kompletter Schul-Lockdown nicht völlig ausgeschlossen.
Schule aus der Distanz, da haben Sie ja nun im letzten Schuljahr Erfahrungen sammeln können. Funktioniert das denn?
Das ist die Frage des Vergleichsmaßstabs. Vor einem halben Jahr schien das, was dann Praxis wurde, nämlich eine weitgehende Aufrechterhaltung des Bildungsprozesses durch Fernunterricht trotz Schulschließungen unvorstellbar. Aber wenn jemand erwartet hätte, dass man alle Schüler so gut erreicht wie im Klassenzimmer, ist das Ergebnis natürlich enttäuschend. Es gibt noch viel zu tun, aber es lernen ja alle dazu, auch die Lehrkräfte. Nach einer Umfrage des Ifo-Instituts waren 56 Prozent der Eltern zufrieden, und 39 Prozent unzufrieden. Ist das viel oder wenig? Mit Sicherheit ist es noch verbesserungswürdig.
Was waren denn die Schwachstellen? Waren die Lehrer unwillig oder unvorbereitet?
Das Problem war zunächst einmal, dass die offiziellen, im Auftrag einiger Schulministerien entwickelten Lernplattformen auf den Ansturm des Fernunterrichts nicht ausgelegt waren und reihenweise zusammengebrochen sind. So kam es dazu, dass sich die Schulen dann selbst helfen mussten und entweder auf die gute alte Email ausgewichen sind oder mit kommerziellen Produkten von Google und Microsoft gearbeitet haben. Das war nicht ideal, hat aber funktioniert. Von den Landesregierungen und den Schulverwaltungen kam da wenig Unterstützung. Es waren die Schulen und die Lehrkräfte selbst, die da kreativ und aktiv wurden. Aber das andere Hauptproblem war natürlich der Mangel an verfügbaren Geräten bei den Schülern zuhause. Viele hatten alles, aber gerade ärmere Familien eben oft nicht.
Wenn man mal den Zustand vor Corona auf 100 setzt, wie gut haben die Lehrer da mit Distanzunterricht ihre Schüler erreicht?
Da gibt es die ganze Bandbreite von null bis 150 Prozent. Es gab Totalausfälle, Kinder, die aus welchen Gründen auch immer abgetaucht sind und wochenlang nicht erreicht werden konnten. Es gab aber auch Schüler, die richtig aufgelebt sind, sich mit anderen vernetzt und die technischen Möglichkeiten voll ausgenutzt haben. Da haben wir alle viel dazu gelernt, was auch dann Teil des Schulbetriebs bleiben wird, wenn es mal hoffentlich keine Corona-Pandemie mehr geben wird. Klar ist natürlich, Präsenzunterricht ist unverzichtbar, vor allem sprachliche Förderung funktioniert nur in der Lerngruppe vor Ort. Aber neue Instrumente des Distanzunterrichts können den Präsenzunterricht gut ergänzen.
Was hat man aus den Erfahrungen des Frühjahrs lernen können?
Man hat zu lange gebraucht, um für den Distanzunterricht klare Regeln aufzustellen. In manchen Bundesländern gibt es diese bis heute nicht. Ich glaube, es muss eine Anwesenheitspflicht auch für den Distanzunterricht geben. Ohne sie fallen die schwächeren Schüler noch weiter zurück. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass Schülern ohne eigene Laptops Leihgeräte zur Verfügung gestellt werden. Außerdem wundert mich, wie langsam der Digitalpakt bei den Schulen ankommt. Es sind noch nicht einmal zehn Prozent der Mittel ausgegeben worden. Das Geld wird aber dringend gebraucht. An der Technik sollte es nun wirklich nicht scheitern.