Im Rückblick gilt er als Anfang vom Ende des Kommunismus in Polen und im gesamten Ostblock: der am 14. August 1980 begonnene Massenstreik auf der Danziger Leninwerft. Dadurch wurde der spätere Mauerfall erst möglich.
Im Sommer 1980 spielte Polens Regierung mal wieder mit dem Feuer. Sie stand damals unter Leitung von Edward Gierek, dem allmächtigen Ersten Sekretär und Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Sie hatte zum 1. Juli 1980 völlig überraschend und ohne jegliche Vorab-Ankündigung drastische Preiserhöhungen für subventionierte Konsumgüter, vor allem für Fleisch- und Wurstwaren, vorgenommen. Das machte sich beispielsweise sogleich am um 100 Prozent erhöhten Preis einer Frikadelle bemerkbar. Die Verantwortlichen hatten wohl darauf spekuliert, dass ihre Landsleute diese bittere Pille zu Beginn der Sommerferien am ehesten widerstandslos schlucken würden.
Dabei hätten ihnen die verheerenden Streiks in den Jahren 1970 und 1976, die durch vergleichbare Preiserhöhungen ausgelöst worden waren, eine Lehre sein können. Zumal Gierek selbst erst nach Niederschlagung des Arbeiteraufstandes vom Dezember 1970 mit offiziell 45 Toten und Tausenden Verletzten zum starken Mann der Volksrepublik hatte aufsteigen können. Und der Aufstand vom Juni 1976 war erstmals nicht nur von Arbeitern, sondern auch von mit ihnen verbündeten oppositionellen Intellektuellen getragen worden – wodurch seine politische Sprengkraft deutlich erhöht wurde.
Obwohl auch dieser zweite Aufstand von der Staatsmacht brutal erstickt werden konnte, blieb er nicht folgenlos. Weil sich daraus unter Führung der Intellektuellen im Juli 1976 die Bildung eines „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter" ergab, das ein Jahr später in „Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung" umbenannt wurde. Zusätzlich wurde ab September 1977 die ein- bis zweimal monatlich erscheinende Untergrund-Flugschrift „Robotnik" (zu Deutsch: „Der Arbeiter") verbreitet. Und ab 1978 kam es zur Gründung illegaler freier Gewerkschaften, beispielsweise der Freien Gewerkschaft des Küstengebiets. Dort engagierte sich der damals landesweit noch unbekannte, aber wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten in der Region Danzig schon hochgeschätzte Lech Walesa. Er hatte seinen Job als Elektromonteur auf der Danziger Leninwerft bereits 1976 wegen seiner gewerkschaftlichen Aktivitäten verloren.
Es rumorte im Land, wobei der Wunsch nach Veränderung der politischen Strukturen noch besonders durch den Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. im Juni 1979 weiter geschürt wurde. Vor 300.000 Gläubigen hatte der Pontifex Maximus am Pfingstsonntag unter donnerndem Applaus seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass der Heilige Geist helfen möge, „das Angesicht dieses Landes zu erneuern". Noch deutlicher wurde er einige Tage später bei einem Gottesdienst vor zwei Millionen Menschen in Krakau: „Ich bitte euch: Verliert niemals das Vertrauen, lasst euch nicht niederschlagen und nicht entmutigen."
„Lasst euch nicht entmutigen"
Auch wenn der Aufstand im August 1980 auf der Danziger Werft kulminieren sollte, so nahm er seinen Anfang doch vor allem im Großraum Lublin, der Stadt, der als Eisenbahn-Knotenpunkt Richtung Sowjetunion besondere strategische Bedeutung zukam. Der erste Streik gegen die Preiserhöhungen wurde am 8. Juli 1980 im Vorort Swidnik aufgenommen. Im Laufe des Monats schlossen sich der Arbeitsniederlegung landesweit 177 Betriebe an, wovon alleine 150 dort in der Region ansässig waren. Deshalb bürgerte sich die Bezeichnung „Lubliner Juli" für diese erste Phase der Massenproteste ein. Der Regierung gelang es erfolgreich, diesen ersten Flächenbrand durch Gewährung von Ausgleichzahlungen an Arbeiter der jeweils streikenden Unternehmen zu löschen, ohne diese Regelung jedoch landesweit anzuwenden. Daher konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch Betriebe in anderen Regionen Forderungen nach Lohnaufstockungen stellen würden.
Am 14. August 1980 war es auf der Danziger Leninwerft dann soweit. Allerdings wurden hier von Anfang an die rein wirtschaftlichen Forderungen mit weiteren Postulaten wie Errichtung eines Denkmals für die Opfer des Dezembers 1970 oder Straffreiheit für alle Streikenden verknüpft. Die anwesenden rund 12.000 Beschäftigten verlangten zudem ultimativ die sofortige Wiedereinstellung zweier prominenter Kollegen. Zum einen Lech Walesa, der als Betriebsrat ohnehin einen besonderen Kündigungsschutz hätte genießen müssen. Zum andern die Kranführerin Anna Walentynowicz, die genau eine Woche zuvor nach fast 30 Jahren Betriebszugehörigkeit und kurz vor Renteneintritt als vermeintliche Unruhestifterin entlassen worden war – weil sie, wie Walesa, schon 1970 und 1976 bei den früheren Streiks an vorderster Front gestanden und auch in der „Freien Küstengewerkschaft" mitgewirkt hatte. Nachdem sich am 15. August 1980 die Danziger Verkehrsbetriebe mit den Aufständischen solidarisch erklärt hatten, blieb der Regierung nichts weiter übrig, als am Folgetag sämtliche Forderungen zu erfüllen.
Lech Walesa hatte sich bei Ausbruch des Aufstandes von seinem neuen Arbeitsplatz mit einem Taxi zur Werft fahren lassen. Dort hatte er sich sogleich zum Wortführer der Streikenden aufgeschwungen und wollte den Arbeitskampf am 16. August 1980 auf der Stelle beenden. Doch damit stieß er bei dem einen Tag später gegründeten „Überbetrieblichen Streikkomitee" auf taube Ohren, weil dieses neben weiteren sozialen Zugeständnissen nun auch politische Forderungen durchsetzen wollte, vor allem die Zulassung unabhängiger Gewerkschaften und die Einschränkung der Pressezensur-Willkür. Es wurde ein Verhandlungsdokument mit 21 Punkten erarbeitet, das nach seiner Unterzeichnung am 31. August 1980 durch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Mieczyslaw Jagielski und Lech Walesa als Danziger Abkommen oder Augustabkommen in die Geschichte eingehen sollte.
Solidarnosc war die direkte Folge
Es war ein epochales Dokument, weil erstmals im Ostblock unabhängige Gewerkschaften entstehen und dadurch der übermächtige Unterdrückungsapparat sowie das Organisationsmonopol der Polnischen Arbeiterpartei ins Wanken geraten konnten. Weshalb das Danziger Abkommen das Ende der kommunistischen Herrschaft einleiten sollte: Die direkte Folge des Abkommens war die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc am 17. September 1980, die innerhalb weniger Monate knapp zehn Millionen Mitglieder gewinnen und damit die größte Massenorganisation Polens werden sollte. Sie beschränkte sich nicht nur auf klassische Gewerkschaftsaufgaben, sondern entwickelte sich zu einer starken Bewegung zur Wiedererlangung von Bürgerrechten und für mehr demokratische Freiheiten. Lech Walesa, als neuer Nationalheld gefeiert, war vom Start weg Vorsitzender. Die offizielle Anerkennung durch die Regierung erfolgte am 10. November 1980.
In Moskau und in Ost-Berlin war man zutiefst beunruhigt über die Entwicklung von Solidarnosc zu einer regelrechten Volksbewegung. Im April 1981 wurden polnische Regierungsvertreter in einem Geheimtreffen mit einer russischen Delegation unter dem damaligen KGB-Chef Juri Andropow zu einer gewaltsamen Niederschlagung der Protestbewegung aufgefordert; auch die Entsendung von Hilfstruppen des Warschauer Pakts wurde angeboten. Nach Ablösung des von Moskau als zu nachsichtig angesehenen Gierek-Nachfolgers Stanislaw Kania an der Parteispitze durch General Wojciech Jaruzelski verhängte dieser am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht über das Land. Danach ließ er die führenden Köpfe und 10.000 Anhänger der Gewerkschaft internieren und Solidarnosc am 8. Oktober 1982 endgültig verbieten.
Nach Perestroika Karten neu gemischt
Nach Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 versuchte die Regierung, die weiterhin angespannte Lage durch Aufnahme von Kontakten zur katholischen Kirche zu beruhigen. Das sollte angesichts immer größerer wirtschaftlicher Probleme und einer Staatsverschuldung in schwindelerregenden Höhen allerdings nicht recht gelingen. Zumal die im Untergrund und im Ausland mit Exilbüros tätige Solidarnosc nicht zuletzt dank der Verleihung des Friedensnobelpreises an Lech Walesa noch im selben Jahr auch immer noch viele Anhänger hatte.
Mit Michail Gorbatschows Perestroika-Politik wurden auch die politischen Karten in Polen neu gemischt. Gespräche am runden Tisch waren die ersten dieser Art im Ostblock und an sich schon eine unglaubliche Sensation, da das kommunistische Regime offiziell Gespräche mit seinen bisherigen Gegnern aufnahm. Im Frühjahr 1989 wurde Solidarnosc amtlich wieder anerkannt und konnte bei den Wahlen im Juni einen überwältigenden Sieg feiern. Im Dezember 1990 wurde Lech Walesa zum Staatspräsidenten der Republik Polen gewählt, die sich heute als demokratischer Rechtsstaat versteht.