Normalität hat viel mit Selbstverständlichkeit zu tun und was wir in der Gesellschaft gewohnt sind. Doch was genau ist eigentlich normal?
Verhält sich jemand anders als wir es gewohnt sind oder es für gut heißen, fällt im Alltag schnell der Satz „der ist doch nicht normal". Ebenso versuchen sich Menschen mit der Frage „Bin ich noch normal?" rückzuversichern. Es scheint, als sei Normalität ein Zustand, in dem man sich besonders gerne befinden möchte. Doch was genau ist eigentlich normal?
In der Psychologie wird Normalität als „erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten im Gegensatz zu unerwünschtem, behandlungsbedürftigem, gestörtem, abweichendem Verhalten (auch: Wahnsinn, Verrücktheit, gestörtes Seelenleben, psychische Krankheit)" definiert. In den Naturwissenschaften oder der Wirtschaftsforschung geht man davon aus, dass wer oder was nicht normal ist, von einer definierten Norm abweicht. Wie weit, kann man anhand der sogenannten Gaußschen Normalverteilung berechnen. Dafür werden alle erfassten Ausprägungen eines Phänomens in ein Diagramm eingetragen. Dort bilden sie eine Glockenkurve. Um den Scheitelpunkt sammeln sich die am häufigsten vorkommenden Werte. Je weiter man sich vom Mittelwert entfernt und je näher man somit den Extremen kommt, desto mehr nimmt ihre Anzahl ab. In der einfachen Berechnungsvariante gelten 68,27 Prozent der Werte als erwartbar und damit normal. Statistisch betrachtet müssen also zwei Drittel der Menschen dasselbe tun, damit es als normal gilt.
Im Alltag haben wir natürlich keine Glockenkurve zur Hand und verlassen uns auf unsere Erfahrungen und Empfindungen. Damit wird Normalität zu einem subjektiv gemessenen Wert. Wir drücken damit einerseits aus, dass wir etwas für durchschnittlich oft vorkommend halten. Andererseits verbinden wir aber auch ein Werturteil damit.
Dabei ist Normalität nicht in Stein gemeißelt, sondern unterscheidet sich in unterschiedlichen Ländern und Kulturen. Ebenso wie sie sich über die Zeit verändert. Ein Beispiel: Noch im Jahr 1970 war es normal, dass Paare ohne Trauschein nur schwer eine gemeinsame Wohnung mieten konnten. In den 80er-Jahren begannen dann unverheiratete Menschen zunächst in den Universitätsstädten und später auch auf dem Land zusammenzuziehen. Heutzutage käme vermutlich niemand mehr auf die Idee, von einem Paar einen Trauschein zu verlangen. Was normal und was unnormal ist, wird also von einer Gesellschaft insgesamt bestimmt. Normalität hat deshalb viel mit Selbstverständlichkeit zu tun und mit dem, was jemand gewohnt ist und deshalb als richtig erachtet.
Subjektiv gemessene Werte
Das heißt aber auch, dass nur weil etwas normal ist, es nicht zwingend auch gut oder richtig ist. Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti prägte einst das bekannte Zitat, es sei kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine zutiefst kranke Gesellschaft zu sein. Er folgt damit dem Grundgedanken, dass Normalität in problematischen oder ungesunden gesellschaftlichen Strukturen auf eine Entfremdung des Menschen zurückzuführen und daher nicht positiv zu bewerten sei. Auch der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) hatte sich ähnlich geäußert und in einem „Zeit"-Interview erklärt: „Die Normalsten sind die Kränkesten. Und die Kranken sind die Gesündesten. Das ist nicht bloß eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, zeigt, dass bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, dass sie nicht in Konflikt kommen können mit den Mustern der gestörten Kultur, sondern dass sie in dieser Kultur Krankheitssymptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat. Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfände, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. Aber sehr viele Menschen, das heißt: die Normalen, sind so angepasst, die haben so sehr alles, was ihr eigen ist, verlassen, die sind so entfremdet, sind so zum Instrument, sind so roboterhaft geworden, dass sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden."
Fromm argumentierte, es sei gerade die bürgerliche Gesellschaft, die den Menschen zum Arbeitstier mache und die Fähigkeit, zu lieben, für sich und andere da zu sein, zu denken, nicht Instrument zu sein für die Wirtschaft, sondern der Zweck allen wirtschaftlichen Geschehens zu sein, verhindere. „Unsere Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Prinzip, das Ziel des Lebens sei die größere Produktion und die größere Konsumption. Fortschritt von Wirtschaft und Technik. Nicht der Mensch! Was dem Menschen nützt, das interessiert wenig. Sogar nicht einmal, was dem Menschen schadet, spielt eine Rolle. Viele von unseren Anzeigen und Reklamen preisen Dinge an, die ausgesprochen tödlich, schädlich sind", so der Psychoanalytiker.
Der niederländische Maler und Zeichner Vincent van Gogh (1853–1890) führte noch ein weiteres Argument gegen die Normalität ins Feld, als er schrieb: „Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr." Van Gogh betrachtete die Normalität als ebenso bequem wie langweilig, als einen Weg, der die wahre Schönheit und das Besondere des Lebens nicht zugänglich machen kann. Ähnlich geht es auch heutzutage vielen Menschen, die nach persönlicher Entfaltung und Individualität streben. Gerade im 21. Jahrhundert boomt der Trend zur Individualisierung. Der Mensch strebt zunehmend nach Autonomie und Freiheit, alte Institutionen und Normen verlieren an Bindungskraft. Selber bestimmen, welchem Beruf man nachgehen oder welche Sexualität man leben will, ist über die Zeit viel bedeutsamer geworden. Lebenskonzepte differenzieren sich immer weiter aus.
Die Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Paula-Irene Villa Braslavsky, geht davon aus, dass der Mensch die Gesellschaft und das Miteinander brauche und deshalb einerseits nach Normalität strebe. „Ohne Interaktion können wir nach der Geburt kaum ein paar Stunden überleben. Eine Orientierung an anderen, an Gruppen, Regeln, Vorstellungen und Erwartungen, ist für unser Leben ganz entscheidend", sagte sie der „Zeit". Andererseits aber definierten sich Menschen über ihre Individualität und über Unterschiede zu anderen, um ihre Identität zu festigen. „Wir streben alle nach Individualität, nach Einzigartigkeit, nach Originalität. Es ist Teil unserer Normalität geworden, einzigartig sein zu wollen. Sonst gäbe es ja keine Liebe, keine Kreativität, keine technischen Innovationen."
Streben nach individualität
Auch das Streben nach Individualität scheint demzufolge also ganz normal. Die Autorin Sybille Berg geht in ihrem Spiegel-Artikel „Es gibt keine normalen Menschen" ebenfalls davon aus, dass die Menschen sich vor allem darin ähneln, dass niemand von ihnen vollkommen einem gesellschaftlichen Idealbild entsprechen könne. Sie glaubt, dass es deshalb letztlich gar keine normalen Menschen gäbe. „Es gibt nur eine gesellschaftliche Verabredung, wie sich ein korrekter Mensch zu verhalten habe, es gibt sozialen Druck, der sich aus kulturellen Vorgaben bildet. Und aus der Werbung. Und aus den Medien. Und so weiter. Der normale, also nicht existierende Mensch, der versucht, einem Bild zu entsprechen, Anforderungen aller zu erfüllen, um gemocht und akzeptiert zu werden, ist eher einer der unsympathischen Gesellen. Er spricht nicht in Originaltönen, er zieht an, was unauffällig ist und gut zu reinigen, er poliert seinen Gartenzaun und beißt sich die Knöchel passiv-aggressiv wund." Sie hält es für viel zielführender, den Menschen zu vermitteln, dass sie – so wie sie eben sind – schon in Ordnung seien.
Eine solche Herangehensweise könnte Toleranz fördern und die vielfach beobachteten Ausgrenzungsmechanismen, die aus der Idee von Normalität resultieren können, mildern. Auch der Psychiater Asmus Finzen beklagt, dass Menschen häufig ausgegrenzt würden, wenn sie von anderen als nicht „normal" angesehen würden. Dies gelte besonders für Menschen mit psychischen Störungen. In seinem Buch „Normalität. Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft" schreibt er: „Selbst schwere psychische Störungen wie die Schizophrenie sind in gewisser Weise ‚normal‘ – so wie andere schwere Krankheiten auch, etwa Krebs oder Schlaganfall. Wenn jemand körperlich krank ist, würde niemand auf die Idee kommen, zu behaupten, der sei nicht normal". Psychisch erkrankte Menschen halte man jedoch schnell für gefährlich und unberechenbar. Finzen zeigt in einer Mischung aus Ratgeber und Streitschrift auf, wie sehr die Vorstellungen sowohl in der Gesellschaft als auch in psychiatrischen Argumentationen zutiefst von Normalitätsannahmen geprägt sind. Er erläutert auch, welche Krankheitsbilder es gibt, wie psychiatrische Untersuchungen ablaufen, und dass ohne eine Vertrauensbeziehung zwischen Patient und Arzt leicht Fehler entstehen. Die Kategorie „Normalität" selbst hält er für nicht tiefgehend analytisch.
Letztlich bleibt Normalität aber vor allem eines: ein sich stetig wandelndes Konstrukt, das sich je nach Kultur unterscheidet, für Anbindung an Gesellschaft ebenso wie auch für Ausgrenzung sorgt, zutiefst subjektiv sein kann und daher immer wieder überprüft werden sollte.