Auf das vertraute Schwätzchen mit unserem Apotheker auf dem Land werden wir wohl verzichten müssen. Doch überall sind Apotheken wachsendem Konkurrenzdruck ausgesetzt. Das E-Rezept wälzt alles um.
Die Apotheke um die Ecke ist bedroht. So wie Metzger, Bäcker und der Tante-Emma-Laden scheint auch sie aus den Dörfern zu verschwinden. Seit mehr als zehn Jahren nimmt die Zahl der öffentlichen Apotheken kontinuierlich ab, klagt die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). Ende 2019 waren es noch 19.075 Betriebsstätten – 348 weniger als ein Jahr zuvor und sogar 2.500 weniger als vor zehn Jahren. Und das, obwohl Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Ende 2019 bekräftigte: „Die Apotheke vor Ort ist ein Stück Heimat."
Gründe für das Verschwinden von Apotheken gibt es viele: Überalterung, Fachkräftemangel, Nachwuchssorgen. Viele lang gediente Inhaber finden keinen Nachfolger. Wer eine Apotheke übernehmen will, muss viel Eigenkapital mitbringen und vermutlich zusätzlich noch einen Kredit aufnehmen. Das Risiko scheinen viele zu scheuen. In der Pharmaindustrie hingegen haben studierte Pharmazeuten Aussicht auf ein höheres Einkommen und geregelte Arbeitszeiten.
Noch kommen auf 100.000 Einwohner 23 Apotheken. Der Branchendienst „Apotheke adhoc" aber warnt: „Das große Apothekensterben kommt erst noch." Auch hier hat die Corona-Krise die kritische Situation ins Licht gerückt. Erlebten die Apotheken im März zu Beginn der Corona-Krise noch einen nie gekannten Ansturm, so herrschte im April und Mai totale Flaute. Die Kunden wollten ihre Hausapotheke auffüllen, sie suchten nach Desinfektionsmitteln und ließen sich zur Sicherheit schnell noch das eine oder andere Präparat verschreiben. Vier Wochen später herrschten Ausgangsbeschränkungen und die Betriebsstätten blieben leer. Dafür boomte der Online-handel mit rezeptpflichtigen und freien Medikamenten. Ein Plus von 87 Prozent bei Medikamenten und 72 Prozent bei Drogeriewaren gegenüber dem Vorjahr meldete der Branchendienst „Healthcare Marketing". Ein Vorgeschmack auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Medikamente sind im Internet oft günstiger
Vor Corona hatte der Onlinehandel laut ABDA einen Marktanteil bei den verschreibungspflichtigen Arzneimitteln von gerade einmal einem Prozent, bei den rezeptfreien Arzneimitteln allerdings bereits von 17 Prozent des Gesamtumsatzes. Das könnte sich mit der Digitalisierung schnell ändern. Wenn das elektronische Rezept sich einmal im Gesundheitswesen durchgesetzt hat, wird sich der Apothekenmarkt tiefgreifend umwandeln. Die Zahl der Vor-Ort-Apotheken könnte um 7.000 zurückgehen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Marketingberatung Dr. Kaske aus München. Online-Apotheken sähen im E-Rezept eine einmalige Chance und könnten die Ablösung des Papierrezepts kaum erwarten. „Wir erwarten eine Steigerung des Rx-Versandhandelsanteils (Rx steht für rezeptpflichtig, Anm. d. Red.) auf bis zu 10,2 Prozent", so die Autoren der Studie. Und da ist noch jede Menge Luft nach oben. Denn wer über seinen Rechner oder sein Smartphone nach Erhalt des E-Rezepts nur noch einen Code an die Versandapotheke senden muss, um sein Medikament zu bekommen, wird sich den Weg in die Apotheke vor Ort im Zweifelsfall sparen.
Noch ist es nicht so weit. In einigen Bundesländern laufen Pilotversuche, etwa in Berlin und Baden-Württemberg. Ursprünglich für 2020 geplant, wird sich die Einführung des E-Rezepts aber noch mindestens bis 2022 hinauszögern. Das entspricht auch dem Interesse des Branchenverbands ABDA: Dort ist man dabei, den Apotheken zu helfen, sich möglichst schnell die notwendige Technik zuzulegen, um eine Chance gegen die großen Versandhändler zu haben. Es geht um eine eigene, sichere Datenautobahn zwischen Arzt, Apotheke, Abrechnungsstelle und Patient – eine Telematik-Infrastruktur. Der Apotheker braucht einen Konnektor, um sich an das Netz anzubinden (so etwas wie einen Router), einen eigenen elektronischen Heilberufsausweis, Kartenlesegeräte und anderes mehr. Nur so kann der Patient auch direkt über seine gewohnte Apotheke die Vorteile nutzen, die ein E-Rezept bietet (siehe Kasten) und braucht sich nicht an den Versandhandel zu wenden.
Dass Online-Apotheken – ob aus dem In- oder Ausland – auch verschreibungspflichtige Medikamente vertreiben dürfen, wird sich nicht zurückdrehen lassen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat im Oktober 2016 entschieden, dass ausländische Versandapotheken die deutsche Arzneimittelpreisverordnung nicht beachten müssen, wenn sie rezeptpflichtige Medikamente zu Patienten nach Deutschland schicken. Es hat damit die Praxis europäischer Versender bestätigt, von den einheitlichen Apothekenabgabepreisen durch die Gabe von Boni und Rabatten abzuweichen. Der Apothekenverband betrachtet die bundeseinheitliche Preisbindung für Medikamente auf Rezept als einen der ordnungspolitischen Eckpfeiler der deutschen Arzneimittelversorgung. Jeder Versicherte soll an jedem Ort zu den gleichen Bedingungen Medikamente und medizinische Leistungen bekommen können – so das Prinzip der gesetzlichen Krankenversicherung (Prinzip der Gleichpreisigkeit).
Nachwuchsmangel bereitet ebenfalls Sorgen
Das hat die große Koalition sogar im Koalitionsvertrag bekräftigt: „Um die Apotheken vor Ort zu stärken, setzen wir uns für ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein." Allerdings waren sich die Koalitionspartner in dieser Frage nie einig. So kam es am Ende zu einem Kompromiss: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wollte sich mit der EU nicht anlegen und präsentierte im April 2019 ein „Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz (VOASG)", das unter anderem eine bessere Vergütung für Nacht-, Not- und Botendienste vorsieht. Einheitliche Abgabepreise für verordnete Arzneimittel sollen sozialrechtlich abgesichert werden – was immer das heißt – allerdings nur für gesetzlich Versicherte. Der Stand vor Corona war: Die Bundesregierung hat das VOASG noch nicht in den Bundestag eingebracht, man wartet auf eine Stellungnahme der EU.
Doch wer sind überhaupt diese Online-Apotheken, die so dringend auf das E-Rezept warten? Den meisten wird als Erstes wohl der Name Doc Morris einfallen. Den Namen gibt es noch, auch den Versandanbieter, doch jetzt gehört er zu einem Verbund von Anbietern unter dem Namen „Zur Rose" mit Sitz in der Schweiz. Zwar haben insgesamt mehrere tausend Apotheken schon heute eine Versanderlaubnis, doch nur etwa 20 Anbieter spielen am Markt eine Rolle. Sie haben bereits gigantische Lagerkapazitäten gebaut oder angemietet, um jede Tablette direkt aus dem Regal nehmen zu können. Am größten ist derzeit wohl die Shop-Apotheke-Gruppe, gefolgt von der Apo-Discounter und der Medikamente-per-Click-Gruppe. Noch fordern alle auf ihrer Webseite die Patienten auf, den rosa Rezeptzettel in einen Umschlag zu stecken und einzuschicken – der einzige Weg, ein verschreibungspflichtiges Medikament zu versenden. Und alle schwören, dass sie den rosa Zettel nicht abschaffen wollen. Aber wenn erst mal „ein Klick" genügt, um an sein begehrtes Medikament zu gelangen, wird sich die Situation schnell ändern.