Das Unclaimed Baggage Center in Alabama verkauft Gepäck, das Reisende auf USA-Flügen verlieren. Die Auswahl an Secondhand-Schnäppchen ist groß – nur Drogen und Waffen werden aussortiert.
Eric Rebarchik kann sein Glück kaum fassen. Eigentlich wollte der 47-jährige Familienvater nur ein Geburtstagsgeschenk für seine Tochter finden. Doch dann das: ein Unterhemd mit verstärkter Innentasche. „Das ist ja der Wahnsinn", freut sich der Mann, der mit seinen sorgsam frisierten grauen Haaren dem Bestseller-Autor Frank Schätzing ähnelt. „Ich wusste gar nicht, dass es solche Klamotten gibt", sagt er euphorisch. Die Innentasche sei „superpraktisch für alle, die verdeckt eine Waffe tragen möchten." Und damit auch für ihn.
Solche Sätze, die für europäische Ohren befremdlich klingen, gehen Rebarchik leicht über die Lippen. Er lebt in Scottsboro, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Alabama, in der Waffen zum Alltag gehören. Die Menschen dort sind schon immer mit ihren Gewehren in die Berge gefahren, um auf die Jagd zu gehen. Unten, in der Stadt, muss die verdeckt getragene Pistole genügen – um sich verteidigen zu können, wie es hier heißt. Eine Mentalität, die trotz aller Schießereien in den USA noch immer sehr lebendig ist.
Der Ort, an dem Rebarchik mit seiner Tochter shoppen geht, ist das Unclaimed Baggage Center. So heißt ein lagerhallengroßer Komplex, in dem verloren gegangenes Fluggast-Gepäck verkauft wird. Statistisch gesehen gehen in den USA nur 0,03 Prozent aller Rollkoffer, Rucksäcke und Tragetaschen verloren, die Passagiere mit an Bord nehmen wollen. Doch in dem Land, in dem täglich fast drei Millionen Menschen ein Flugzeug betreten oder verlassen, ergibt der Promillewert eine riesige Menge. 90 Tage haben Passagiere normal Zeit, ihre Habseligkeiten bei der Airline geltend zu machen und abzuholen. Alles, was danach noch übrig ist, landet in Scottsboro.
Rein optisch sieht das Unclaimed Baggage Center nicht besonders markant aus: ein eingeschossiger, beigefarbener Flachbau mit angeschlossenem Parkplatz. Drinnen reihen sich Kleiderständer, Bücherregale und Glasvitrinen aneinander, ein Anblick wie in einem Secondhand-Kaufhaus – inklusive leicht müffelnder Kleidung. Trotzdem hat es die Firma, die 1970 gegründet wurde, inzwischen zu internationaler Bekanntheit geschafft. Schon viele Kilometer vor Scottsboro künden Werbetafeln am Straßenrand von dem ungewöhnlichen Einkaufserlebnis. Dass die meisten Schilder inzwischen stark ausgeblichen sind, unterstreicht den Effekt nur: Die meisten Verkaufsartikel haben schließlich auch schon ein paar Jahre auf dem Buckel.
War die Sonnenbrille einem Mafia-Boss?
„Wir empfehlen immer einen Besuch unter der Woche", sagt Brenda Cantrell, die Sprecherin des Unternehmens. „Am Wochenende kann man hier vor Leuten nicht treten. An besonderen Aktionstagen kampieren die Menschen sogar auf dem Parkplatz." Den meisten gehe es darum, ein Schnäppchen zu ergattern, ein gut erhaltenes Hemd, ein Paar Turnschuhe oder einen Laptop. Die eigentliche Faszination liege aber in der Vorgeschichte der Gegenstände: Welche Gespräche wurden wohl einst auf dem nie abgeholten Handy geführt? Hat die verspiegelte Sonnenbrille vielleicht mal ein Mafia-Boss getragen? Und wem gehörte dieses stilvolle Kleid?
Am häufigsten landen Jacken, Sonnenbrillen, Kopfhörer, Bücher und kleine Elektrogeräte im Unclaimed Baggage Center – Gegenstände, die Fluggäste als Handgepäck mit sich führen und beim Aussteigen vergessen. Erst danach folgen komplette Koffer, die in der Regel durch technische Probleme verloren gehen: Manche fallen vom Band, bei anderen löst sich der Griff, an dem der Barcode hängt. Wieder andere gelangen an ihr Ziel, werden dort aber trotzdem nicht abgeholt. Warum? „Das fragen wir uns natürlich auch oft", sagt Brenda Cantrell. In einigen Fällen spiele durchaus ein krimineller Hintergrund eine Rolle. „Sie glauben gar nicht, was wir so alles finden", sagt sie. „Drogen, Waffen, Bargeld – alles dabei. Solche Dinge übergeben wir natürlich den Behörden."
Bevor die Gegenstände in den Verkaufsraum gelangen, prüfe man sie eingehend, versichert die Sprecherin. Die Speicher von elektronischen Geräten würden gelöscht, rund 50.000 Kleidungsstücke pro Monat gereinigt. Wie viele Fundstücke insgesamt beim Unclaimed Baggage Center eingehen, verrät das Unternehmen mit Verweis auf das Geschäftsgeheimnis nicht. Nur so viel: Das Geschäftsmodell fußt darauf, den Airlines ihre Fundstücke abzukaufen und hinterher möglichst profitabel wieder zu veräußern. Doch längst nicht alles ist verwertbar: „Ein Drittel kommt am Ende in den Verkauf", sagt Cantrell. Ein weiteres Drittel spende man an karitative Organisationen, den Rest müsse man leider entsorgen.
Wenn man durch die Halle schlendert, fällt auf, wie gemischt das Publikum ist. Männer mit Tarnanzug und Trump-Mütze fachsimpeln über Angelruten, Highschool-Girls durchstöbern die Handtaschen-Kollektion. Zwei Männer, die Spanisch sprechen, suchen Arbeitsschuhe. Lourie Castell hat es auf den Schmuck in der Vitrine abgesehen. „Ich komme bestimmt einmal pro Woche hierher", sagt die 54-Jährige. „Diese Woche habe ich eine Isomatte gekauft, letztes Jahr ein neues Handy für meinen Sohn. In einer Kleinstadt wie Scottsboro würde man so etwas sonst nie finden." Edith Carrington, 61, sucht bunte, afrikanische Kleider – und wird fündig. Nach einer Stunde im Center ist ihr Einkaufswagen bereits so voll, dass er überquillt.
Sein Hab und Gut immer fotografieren
Die Preise bewegen sich auf einem Niveau, wie man es von Secondhandläden kennt. Bücher gibt es ab fünf Dollar, Angeln ab 20 Dollar, Schlafsäcke kosten zehn Euro aufwärts. Doch es gibt Ausnahmen: Objekte, die ausschließlich hinter Sicherheitsglas ausgestellt werden. Der teuerste Artikel, der bisher verkauft wurde, ist eine Rolex-Uhr für 32.000 Dollar, gefolgt von einer Diamant-Halskette, die für 15.000 Dollar an eine neue Besitzerin ging.
„Gerade bei den Diamanten haben wir ab und zu Leute, die behaupten, es seien ihre", erzählt Center-Sprecherin Brenda Cantrell. „Die hätten sie dann natürlich gerne kostenlos zurück." Meist sei das nicht ernst gemeint. Doch in der Geschichte des Gepäckzentrums habe es schon zwei Fälle gegeben, in denen Personen ihre rechtmäßigen Besitztümer wiederentdeckten: „Ein Mann hatte 2017 auf dem Rückflug von Paris seine drei Koffer verloren. Ein paar Monate später war seine Freundin durch Zufall hier. Sie hatte noch die Fotos seines teuren italienischen Maßanzugs auf dem Handy – genau der Anzug, der bei uns auf dem Bügel hing." In diesem Fall habe man die Kleidung zurückgegeben.
Ein anderes Mal war ein Ehepaar von der Fluggesellschaft schon entschädigt worden, entdeckte dann aber Monate später seine Ski-Ausrüstung im Unclaimed Baggage Center. „Sie haben sie uns wieder abgekauft, weil sie so sehr daran hingen", so die Sprecherin. Ihre Tipps für alle Reisenden: „Legen Sie immer ein Namensschild in den Koffer, fotografieren Sie Ihr Hab und Gut und notieren Sie Details und Seriennummern Ihrer Geräte." Wer bei seiner Airline einen schwarzen Laptop als Verlust meldet, habe schon verloren. „In den Fundbüros gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende solcher Geräte. Sie ohne Seriennummer oder sonstige Angaben zuzuordnen, ist so gut wie unmöglich."
Was war das bizarrste Fundstück, das je im Unclaimed Baggage Center angekommen ist? „Eine Rakete", sagt Brenda Cantrell ohne zu zögern. Ausgestopfte Tiere und Bargeld-Bündel rangierten gleich dahinter. „Manchmal wünschte ich, dass diese Taschen sprechen könnten", sagt die Center-Mitarbeiterin. Sie überlegt kurz. „Am Ende ist es natürlich besser so, wie es ist. Das Mysterium gehört bei uns schließlich dazu."