Maskuline Klischees haben den Stil der Herrenmode jahrhundertelang fest zementiert und daher ziemlich langweilig gemacht. Avantgardistische Designer und prominente Protagonisten versuchen, einen grundlegenden Wandel durchzusetzen. Ihre Inspirationsquelle: die Ladys-Fashion. Ihre Fans: die Generation Z.
In Sachen Mode kann heute beim besten Willen nicht von einer Gleichberechtigung der Geschlechter gesprochen werden, denn die Herren der Schöpfung hinken weit hinter den Damen her. Im Zuge ihres vor rund 60 Jahren gestarteten modischen Emanzipationskampfes hatten die Ladys glorreiche Erfolge in ihrem Bestreben erzielt, die gleichen Klamotten tragen zu dürfen wie die Männer. Vergleichbare Ambitionen hatte es in der Herrenwelt nie gegeben. Stattdessen hatte sich seit dem durch die Französische Revolution eingeläuteten radikalen Modeumbruch eine rigide maskuline Bekleidungsvorgabe durchgesetzt, die bis auf den heutigen Tag nur unwesentlich abgeändert oder gelockert worden ist.
Kleidertausch im Spiel der Geschlechterrollen war bislang nur eine Einbahnstraße. Eine Frau in Anzug oder in Jeans ist längst selbstverständlich, ein Mann in Rock oder Ballerinas wird gesellschaftlich kaum toleriert. Letzteres widerspricht schlichtweg zu sehr dem durch Kraft, Stärke oder Macho-Attitüden tradierten Männlichkeitsbild. Das hat sich als Spiegel auch in der Klamottenwahl niederzuschlagen. „Eine Emanzipation des Maskulinen hat es nie auf breiter Linie gegeben", so die „Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) in einem kürzlich erschienenen Stil-Beitrag, „daher sprechen viele heute auch von ‚toxischer Männlichkeit’." Diesen Begriff für die klassische maskuline Haudegenmentalität hatte vor einigen Jahren die „American Psychological Association" (APA) geprägt und als gesellschaftlichen Gegenentwurf das Ideal eines neuen, weichen Mannes entworfen. Das wiederum hat zu heftigen Diskussionen geführt, aber im Zuge der #MeToo-Debatte war es auch Anlass dafür, das Tabu, auch mal offen über eine zeitgemäße Männlichkeit zu sprechen, aufzubrechen. Obwohl es noch ein weiter Weg dahin sein dürfte, wie der bloggende Männerforscher Christoph May unlängst festgestellt hatte: „Von positiven, emotional integren Männerfiguren sind wir weit entfernt."
Historische Vorbilder gibt es zuhauf
Das strittige Thema wurde schon in führenden Lifestyle-Magazinen der Welt behandelt, selbst einige klassische Männerzeitschriften wollten es längst nicht mehr nur als flüchtige Modeerscheinung abtun, sondern machten sich Gedanken über die neue Schwäche oder Zartheit des starken Geschlechts. Historische Vorbilder gab es ja auch genug, von den geschminkten und geschmückten Herrschern des antiken Ägypten, den pfauenhaft aufgeplusterten, Perücke tragenden und gepuderten Adligen des Versailler Hofs bis hin zu David Bowie alias Ziggy Stardust. Der „Vogue" war Anfang 2018 erstmals aufgefallen, dass auch eine ganze Reihe von Menswear-Designern diesem Thema ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten. Sie hatte dann auch gleich mit „Softboy Style" eine Bezeichnung für den neuen Trend ins Leben gerufen, in den Winter-Kollektionen 2018/2019 von Haider Ackermann, Christophe Lemaire, Loewe, Dries Van Noten, Sarah-Linh Tran oder Emily Bode zahlreiche romantische Details wie Samt, flauschige Jacken oder Blouson-Tops ausgemacht und sogar darauf hingewiesen, dass Rapper-Ikone Jay-Z seine Oversize-Hoodies gegen Brokat-Anzüge ausgetauscht hatte.
Als Protagonisten für den neuen Look, von der „Vogue" zum „Poster Boy" deklariert, wurde der aufstrebende franko-amerikanische Schauspieler-Star Timothée Chalamet ins Felde geführt. Der hatte nicht nur in seinen Rollen in Produktionen wie „Lady Bird", „Beautiful Boy", „Call me by your name" oder „The King" für Furore gesorgt, sondern auch mit seiner privaten Vorliebe für Unkonventionelles wie paillettenbesetzte Kapuzenpullover, feminin geschnittene Anzüge in Fliedertönen oder graue Seidenanzüge mit Taillengürtel seines bevorzugten Labels Haider Ackermann. Nicht zu vergessen einen mit großen roten Blumen geschmückten Suit von Alexander McQueen oder einen verzierten Louis-Vuitton-Harness, mit denen er nicht nur ein Blitzlichtgewitter bei den Golden Globes 2019 ausgelöst hatte, sondern die sicherlich auch dazu beitragen sollten, dass Chalamet im „Lyst"-Ranking der einflussreichsten Stil-Ikonen 2019 auf dem zweiten Platz direkt hinter Meghan Markle landen konnte. „Du kannst sein, was auch immer du sein willst", so Chalamet. „Es gibt nichts Bestimmtes, bei dem man mitmachen muss, um männlich zu sein. Es ist aufregend. Es ist eine schöne neue Welt. Vielleicht liegt es an den sozialen Medien, vielleicht liegt es an wer weiß was, aber es gibt eine echte Begeisterung unserer Generation, die Dinge auf eine neue Art und Weise anzugehen."
Unter der „Lyst"-Top-Ten fanden sich zwei weitere männliche Promis, die wie Chalamet für eine neue, weiche Männlichkeit stehen. Nämlich der britische Pop-Prinz Harry Styles, der sich auf dem roten Teppich in einer transparenten Gucci-Schluppenbluse in Kombination mit einem Perlenohrring präsentiert hatte. Und Netflix-Pose-Star Billy Porter, der beim Oscar 2019 in einem maßgeschneiderten Smokingkleid aus schwarzem Samt des Designers Christian Siriano erschienen war und bei der Met Gala 2019 einen denkwürdigen Auftritt als ägyptische Gottheit hingelegt hatte. Nach eigenem Bekunden möchte Porter mit seinen Outfits die gängigen Erwartungen an einen maskulinen Dresscodes brechen: „Ich will eine wandelnde politische Botschaft sein". Die Reihe umschwärmter männlicher Promis einer neuen, jungen Generation, die sich ihre modische Ausdrucksfreiheit nicht mehr allein durch ihre Geschlechtszugehörigkeit vorschreiben lassen möchten, wird ständig größer. Um nur einige Namen zu nennen: Donald Glover, Wes Anderson, Jaden Smith oder Pharell Williams, der sich in madonnenhafter Pose und Daunenrobe auf dem Cover des US-Männer-Magazins „Gentlemen’s Quarterly" ablichten ließ.
Vorherige Versuche waren gescheitert
„Für sie ist Gender-Fluidität nicht nur ein Instagram-Hastag", so die „NZZ", „sondern Teil ihrer Identität – und wird in einer beneidenswerten Nonchalance nach außen getragen." Diese männliche Avantgarde verfährt bei der Klamottenauswahl allein nach dem Lustprinzip und reißt dadurch die traditionellen Grenzen der Herrengarderobe ein. Sie mögen zwar noch ein kleiner, verschworener Haufen sein. Doch finden sie wachsende Unterstützung durch Designer wie Gucchi-Chef Alessandro Michele, der schon 2015 Pussy Bows oder spitzenverzierte Hemdenblusen in seine Herrenmode-Kollektion integriert hatte. Oder Hedi Slimane, der seine „Céline"-Menswear 2018 als unisex deklariert hatte. Viel scheint dafür zu sprechen, dass sich dank dieser einflussreichen Generation Z ein grundlegender Wandel in der Herrenmode vollziehen könnte. Weil dahinter intellektuell weitaus mehr steckt als nur reine Effekthascherei, wie sie Jean Paul Gaultier mit der ersten Laufsteg-Präsentation eines Männerrocks 1984 vollzogen hatte. Von den Auftritten von Prince oder Kurt Cobain in Männerröcken in den 1980er- beziehungsweise 1990er-Jahren ganz zu schweigen.
Auch ernsthaftere Designer-Versuche früherer Zeiten, die unter dem Schlagwort „Feminisierung der Herrenmode" gelaufen waren, waren seinerzeit noch zum Scheitern verurteilt gewesen. 1968 beispielsweise sollten den Herren in Italien Samtmäntel in Edelsteinfarben, Smokings aus Moirésamt, Flanellhemden mit Foulards oder Shirts aus Spitzenstoffen mit Batistkragen schmackhaft gemacht werden. 2007 wagten sich einige Labels wie Lanvin unter Leitung von Alber Elbaz in der Nachfolge von Helmut Lang und versuchten die Herren der Schöpfung für Handtaschen, Kaschmir-Twinsets oder Seidenschals zu erwärmen. Doch erst 2018 wurde auf der Pariser Herrenmode-Schau offen die erwünschte Aufhebung der starren modischen Geschlechtergrenzen propagiert. Vor allem durch John Galliano in seiner Funktion als Maison-Margiela-Chefdesigner oder durch Kim Jones bei seinem triumphalen Debüt für Dior Homme: „Geschlecht spielt keine Rolle mehr – es ist 2018." Galliano setzte auf Seide und Satin, Kim Jones auf transparentes Organza und auf Tüllhemden. Und Pink war die angesagteste Farbe von Dior über Thom Browne bis hin zu Hermès.
Für diese Sommersaison hat der Softboy-Style nun volle Fahrt aufgenommen. Selbst Ballettschuhe (Emily Adams Bode) oder Ballerinas gibt es nun für Herren im Angebot, beispielsweise von Labels wie Jil Sander, Dries Van Noten, Wales Bonner oder Telfar Clemens. Shorts in Ultrakurz-Varianten (Dries Van Noten), Haremshosen, Tank-Tops (Saint Laurent, Jil Sander, Prada oder Dries Van Noten), provokante Cut-outs, Haarbänder oder Hemden aus durchsichtigem Stoff (Dior, Giorgio Armani, Heron Preston, Ludovic de Saint Sernin oder Louis Vuitton) waren neben Röcken (Comme des Garçons oder Thom Browne) weitere Aufreger. Satin war das bevorzugte Material von Marken wie Balmain, Loewe, Dior oder Dries Van Noten. Aber auch Seide konnte einen Overall in gänzlich neuem Licht erscheinen lassen. Pastellfarben wie ausgeblichene Rosé-, Blau-, Mint- und Gelbtöne unterstrichen an der Seite von Flieder die zarte Seite des Mannes. Auch Leoprint (Versace oder Loewe) und Tie Dye (Y/Project, Kenzo, Stella McCartney oder Ermenegildo Zegna) tauchten ungewöhnlich häufig auf. Bei den Accessoires wurden die Fanny Packs durch diagonal über den Oberkörper geschlungene Body-Bags ersetzt, noch angesagter sind wohl die um den Hals gehängten Pouches (Jacquemus oder Dior).
Damit nicht genug setzten drei Designer, nämlich Stefano Pilatti, Bethany Williams und Ludovic de Saint Sernin, für die kommende Wintersaison 2020/2021 noch einen drauf, indem sie ihre Männer-Models mit Büstenhaltern über die Laufstege flanieren ließen. Und auch Halsketten und andere Schmuckstücke bis hin zu einem Tiara-Haarreif wurden als Eyecatcher gesichtet. Ganz zu schweigen von paillettenbesetzten Rollkragenpullovern (AMI) oder Gloves-ähnlichen Handschuhen (Dries Van Noten). Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch Leggins, wie sie beispielsweise Acne Studios entworfen hat, oder ziemlich feminin wirkende Rüschenhemden (Louis Vuitton, Prada, Martine Rose oder AMI).