Queen Esther Marrow gilt als die legitime Nachfolgerin der großen Gospelsängerin Mahalia Jackson. Die stimmgewaltige Afroamerikanerin trat schon mit Ella Fitzgerald, Harry Belafonte und Ray Charles auf. In den vergangenen 25 Jahren tourte sie mit den Harlem Gospel Singers um die Welt.
Queen Esther Marrow, Sie sind mit vielen legendären Musikern aufgetreten, aber vor allem begleiteten Sie den großen Martin Luther King auf seinem „Global Crusade". Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf Ihr Leben zurück?
Mit Freude. Ich sage das, obwohl ich schwere Zeiten erlebt habe. Die gehören aber zu meinem Leben dazu. Worüber sollte ich reden, wenn ich nie Schmerz erfahren hätte? Worüber sollte ich sonst singen, als über meine Höhen und Tiefen? Von all dem kann man lernen.
Wie haben Sie als Kind im US-Bundesstaat Virginia die Rassentrennung erlebt?
Mir war damals sehr bewusst, was soziale Segregation bedeutete. Meine Großmutter sagte immer zu mir: „Queen Esther, bitte lege dich nicht mit den Weißen an! Wenn dich ein anderes Kind anspuckt oder mit Steinen bewirft, geh zu dessen Mutter und erzähle es ihr". Eines Tages fuhr ich mit meinem Fahrrad zum Laden, um Kerosin für unseren Kocher zu kaufen. Unterwegs wurde ich mit dem N-Wort beschimpft, angespuckt und mit Kieselsteinen beworfen. Also fuhr ich zu dem Haus der Eltern, klopfte an die Hintertür – die Vordertür war für mich als Schwarze tabu – und erzählte, was Nancy, Fred und ein weiterer Bruder mir angetan hatten. Die Mutter sagte zu mir: „Queen Esther, wenn du meine Kinder in Ruhe gelassen hättest, hätten sie dich auch nicht belästigt." In dem Moment kochte die Wut in mir hoch und ich warf mit der Kerosinflasche nach dieser Frau. Das hatte meine Großmutter mitbekommen, die aufgeregt angelaufen kam und rief: „Stopp! Du sollst dich doch nicht prügeln!" Aber für ein Kind ist es sehr schwer, sich nicht gegen Rassismus zu wehren. Der Zorn in mir wurde im Lauf der Zeit immer stärker.
Haben Ihre Eltern und Großeltern den Rassismus einfach hingenommen?
Meine Großmutter war die Tochter einer Sklavin. Sie hatte zwei Kinder von einem Weißen und zwei von einem Schwarzen. Wenn sie in die Stadt musste, nahm sie immer den Bus. Ab und zu durfte ich sie begleiten. Einmal nahm sie direkt hinter dem Fahrer Platz, der aber sagte zu ihr: „Tut mir leid, Sie dürfen hier nicht sitzen!" – „Wieso?" – „Mütterchen, das sage nicht ich, sondern das Gesetz!" – Ich war vier und saß neben Großmutter. Meine Füße berührten kaum den Boden. Da erhob sie sich: „Ich will jetzt von Ihnen wissen, wieso ich hier nicht sitzen darf! Ich darf die Häuser von euch Weißen putzen und für eure Kinder kochen, aber im Bus darf ich nicht neben euch sitzen. Wie kommt das?" Sie bohrte immer weiter, während ich immer verlegener wurde. Solche Dinge haben mich mein halbes Leben lang begleitet. Nachts musste ich besonders vorsichtig vor weißen Jungs sein. Ich gewöhnte mich daran, aber nicht alle Schwarzen verhielten sich friedlich.
Gab es einen Wendepunkt in Ihrem Leben, der alles verändert hat?
Als ich mit 19 Jahren das Elternhaus verließ und nach Harlem in New York ging, hatte ich eine Managerin namens Norma Rein. Mit ihr veränderte sich alles, und wir wurden Freundinnen. Wir bekamen das Angebot, in Südafrika zu spielen. Aber kurz vor der geplanten Abreise sah ich eine Dokumentation über die Apartheid und sagte zu Norma: „Ich werde nicht nach Südafrika fliegen!" Ich bin dann in London in Ronnie Scott’s Club aufgetreten. Aber meine Agentur wollte unbedingt, dass ich zusammen mit den Four Tops in Südafrika spiele. Ich sagte wieder nein. Wenn man sich permanent Rassismus ausgesetzt sieht, türmt sich bei einem der Hass auf. So will ich aber nicht sein.
Welche positiven Erfahrungen haben Sie geprägt?
Als ich im Alter von 22 mit Duke Ellington auf Tour war, machten wir in Vancouver Station. Nach der Show sagte man mir im Hotel, ich solle mir mit einer Weißen ein Zimmer teilen. Ich hatte aber noch nie mit einem hellhäutigen Menschen im selben Bett geschlafen. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich ihr das gestand. Da nahm diese Frau mich in den Arm und drückte mich: „Esther, es ist in Ordnung!"
Hat man Ihnen auch als Erwachsene noch Gewalt angetan?
Gott sei Dank hatte ich nie körperlichen Kontakt mit Polizisten. Es war keine physische Gewalt, sie manifestierte sich eher in der Art, wie man mit mir sprach und wie man mich behandelte. Dass Schlimmste war für mich, ins Gesicht gespuckt zu werden. Früher hasste ich Polizisten, weil Freunde von mir mit dem Schlagstock verprügelt worden waren.
Es gab brenzlige Situationen mit Cops, aber Gott hat mich jedes Mal beschützt. Einmal griff ein Officer zu seiner Waffe, da schrie ich ihn an: „Werden Sie mich jetzt erschießen?" Ich war damals ein bisschen übermütig.
In den 60ern sind Sie mit dem großen Prediger Martin Luther King um die Welt getourt, um gegen die Rassisten und Hasserfüllten anzukämpfen. Wie kamen Sie mit ihm zusammen?
Ich lernte ihn 1967 in Chicago kennen. Vor Dr. King hatte ich sofort gewaltigen Respekt. Damals arbeitete ich mit Harry Belafonte, dem berühmten Bürgerrechtsaktivisten. Er gehörte zur Bewegung. Wie auch Sidney Portier, Dick Gregory, Mahalia Jackson und Aretha Franklin. Überall wo er gesprochen hat, haben wir gesungen. In Houston/Texas schmissen Rassisten Stinkbomben in die Lüftungskanäle. Nach der Show saßen wir oft mit Dr. King zusammen und diskutierten über Rassismus.
Was haben Sie von Dr. King gelernt?
Ich habe von ihm gelernt, diese ganze Boshaftigkeit mit meinen Gedanken zu überwinden. Denn ich bin klüger als die Rassisten. Es war eine großartige Erfahrung, mit Dr. King zu diskutieren. Die Arbeit mit ihm hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. In dieser Zeit hat man ihm Schreckliches angetan. Ich habe ihn immer sehr genau beobachtet. Jedem anderen wäre es unheimlich schwer gefallen, nach üblen rassistischen Vorfällen die andere Wange hinzuhalten, aber Dr. King war durch und durch friedlich gesinnt.
Alles, was er predigte und lehrte, lebte er auch. Mit der Zeit verstand ich, dass man auf diese Weise zu einem besseren Menschen wird. Wie Michelle Obama sagte: „Euer schlechtes Benehmen bringt uns nicht aus der Fassung". Würde man sich auf das Niveau der Rassisten begeben, würde man sich sehr schlecht fühlen. Der ehrenhafte Weg befreit einen von dem Bösen. Man fühlt sich gut dabei.
Wie erinnern Sie den Tag, als Martin Luther King ermordet wurde?
Ich saß in einem Taxi an der Ecke 120. Straße/8th Avenue in Harlem inmitten eines Aufruhrs, als ich die Nachricht von seinem Tod im Radio hörte. Ein Blitz durchfuhr meinen Körper. An diesem Tag hat die Welt einen großen Mann verloren. Ich denke noch oft an seine Reden. Er sagte einmal: „Ich habe die Spitze des Berges erklommen." Es machte ihm nichts aus, zu sterben. Er gab sein Leben für eine große Sache.
Welchen Moment mit ihm werden Sie nie vergessen?
Alle Momente mit ihm. Man konnte ihn jederzeit umarmen, er war für mich wie ein sanfter Onkel. Er lachte gern. Ein friedlicher Mann.
Waren Sie stets eine friedliche Anti-Rassismus-Kämpferin?
Später ja. Irgendwann hatte ich kapiert, dass Rassisten die reinsten Ignoranten sind. Das Traurige ist, dass der Rassismus zurückgekommen ist. Es bricht mir das Herz. Ich lebe heute wieder in meiner Heimat Virginia, weil New York so teuer geworden ist. Ich bin bei meiner Mutter, sie ist 99 Jahre alt. Ich versuche, mit dem Rassismus irgendwie klarzukommen. Denn er ist einfach nicht totzukriegen. Aber ich bleibe immer auf dem ehrenhaften Weg.
Fühlen Sie sich persönlich von Rassisten bedroht?
Ich persönlich habe keine Angst vor Rassisten. Ich kann Ihnen nicht erklären, woran das liegt. Ich weiß ja, dass es sie gibt und wozu sie fähig sind. Sie schießen auf Leute auf der Autobahn. Auf Schwarze, Gelbe und andere. Da draußen passieren die verrücktesten Dinge. Ich verstehe die Zeiten, in denen wir leben, nicht mehr. Meine Generation war anders. Ich habe vor Schülern gesprochen, die haben gar keinen Respekt mehr vor Lehrkräften. Heutzutage möchte ich kein Lehrer sein. Ich habe den Eindruck, die werden viel zu schlecht bezahlt. Ich habe mal eine Lehrerin gefragt, ob sie denn gar keine Kontrolle über ihre Schüler habe. Da sagte sie: „Man kann die Kinder nicht mehr kontrollieren".
Haben Sie als schwarzes Kind in den 50er-Jahren dieselbe Bildung erfahren wie weiße Kinder?
Nein. Im Unterricht hat man uns nichts über schwarze Geschichte beigebracht. Aber meine Familie hat mir Nachhilfe gegeben. Heutzutage wird wohl auch die Geschichte der Schwarzen gelehrt, aber viele farbige Eltern unterrichten ihre Kinder lieber zu Hause, weil die Schulen so schlecht sind.
Lassen Sie uns lieber über Musik reden. Sie sind auf zwei Alben von Bob Dylan zu hören und mit ihm drei Jahre lang auf Tour gewesen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Ich habe es geliebt, mit Bob zu arbeiten. Er ist ein sehr ruhiger Typ. Und er ist schüchtern. Einmal sagte er zu mir: „Esther, wie fühlt es sich an, wenn sich für dich ein Kreis schließt?" – „Bob, für mich hat sich bislang noch kein Kreis geschlossen. Und für dich?" Er kann sehr witzig sein. Nach einem Gig hat er mich und meine Kollegin Louise manchmal auf dem Zimmer angerufen und uns heruntergebeten, um ihn vor irgendwelchen Leuten zu beschützen. Wir haben denen dann gesagt, sie sollen Bob gefälligst in Ruhe lassen.
War Dylan damals ein großer Motivator?
Bei den Proben habe ich immer genau auf seine Texte gehört. Darin bezog er oft Stellung, was gesellschaftliche Dinge betrifft. Ich liebte „The Times They Are a-Changin‘" und „Blowin‘ in the Wind". Die Background-Stimmen zu „Masters of War" zu singen, war überwältigend.
Sind Sie mit Ihrer Mixtur aus Gospel, Soul und Blues eine durch und durch amerikanische Künstlerin?
Ich bin aus Amerika, aber ich mag alle Arten von Musik. Man hat mich in die Schublade „Gospel" gesteckt. Ich sehe mich selbst aber als eine Sängerin, die alles außer Oper singt. Ich bin Autodidaktin. Gott hat mir mein Talent geschenkt. Das Wichtigste ist die Atemtechnik. Beim Singen ziehe ich mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf.
Wie ist Ihre Beziehung zu Gott?
Sehr stark. Gott ist der Schöpfer. Bei allem, was ich tue, ist Gott immer in der Nähe, um mir zu helfen und mich zu leiten. Vor jedem Auftritt spreche ich ein Gebet. Ich bitte Gott, mir dabei zu helfen, dass ich meinem Publikum das Beste geben kann. Ich glaube, eine bessere Waffe als Musik gibt es nicht.
Wenn ich singe, spricht sie zu mir und übersetzt meine Gedanken und Gefühle in Bilder. Davon fühlt sich das Publikum angezogen. Ich kann keine Songs singen, die nichts aussagen. Ich möchte immer ehrliche und positive Botschaften verkünden.
Steht die Kirche in Amerika hinter Trump?
Nicht meine Kirche! Ich kann nicht für alle sprechen, aber die meisten schwarzen Kirchen stehen nicht hinter Trump.