Dem ehemaligen Grünen-Politiker Michael Cramer sind zwei bedeutende Radwege zu verdanken: der Berliner Mauerweg und der Iron Curtain Trail. Im Interview spricht der 71-Jährige über seine Erfahrungen beim Abradeln der mehr als 10.000 Kilometer langen Strecke.
Herr Cramer, eigentlich sind Sie Politiker. Wie entstand die Idee, für Europa in die Pedale zu treten?
Eigentlich bin ich Lehrer. Als Gymnasiallehrer war ich in Berlin-Neukölln tätig. Dann war ich 15 Jahre im Abgeordnetenhaus von Berlin, gewählt wurde ich im Januar 1989 – also noch vor dem Mauerfall. Und als Verkehrspolitiker war es mir ein Anliegen, mich darum zu kümmern, wie nach dem Fall der Mauer die Stadt zusammenwächst. Und wir, die Grünen und der ADFC, hatten sofort schon die Idee, einen Radweg dort zu bauen, wo einst die Mauer stand. Aber die herrschende Meinung der Medien und der Politik war, dass die Mauer verschwinden muss. Zehn Jahre später, zum 40. Jahrestag des Mauerbaus, haben wir die Idee noch mal aufgegriffen und dafür im Abgeordnetenhaus eine Mehrheit bekommen. Der Radweg wurde ausgeschildert und ist heute ein touristisches Highlight. Als ich dann 2004 ins Europäische Parlament gewählt wurde, war eine meiner ersten Amtshandlungen – nicht nur Deutschland und Berlin, sondern ganz Europa war doch geteilt – ein Antrag für den „Mauerweg" auf europäischer Ebene – entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Dafür habe ich eine große Mehrheit aus allen Ländern und allen Fraktionen bekommen. Der Iron Curtain Trail wurde als EV13 Bestandteil des Eurovelo-Routennetzes.
Es geht also darum, Geschichte. Politik, Kultur und Natur zu erfahren. Und das ganz nachhaltig. Sind Sie selbst diesen Weg komplett geradelt?
Mittlerweile bin ich diese 10.400 Kilometer selbst vollständig abgeradelt. Aber es geht auch um die Zukunft, denn Wilhelm von Humboldt hatte einst gesagt: „Nur, wer seine Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft". Deshalb müssen wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Mit der schlimmen Spaltung Europas und der wunderbaren Überwindung durch die friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa. Dabei hat dieser Radweg natürlich für die beteiligten Länder erhebliche Effekte auch beim Tourismus.
Bei einer solchen Tour geht es natürlich auch vor allem um Begegnungen mit den Menschen, um interkulturelle Erfahrungen. Was konnten Sie dabei erfahren?
Nach dem Beschluss, diesen Radweg entlang der Westgrenze der ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes von der Barentssee an der norwegisch-russischen Grenze bis zum Schwarzen Meer an der türkisch-bulgarischen Grenze zu erschließen, wurden in allen 20 Ländern Koordinatoren ernannt und Workshops abgehalten – bereits das war eine spannende europäische Erfahrung. Und dann bin ich oft gemeinsam mit diesen Koordinatoren die Strecken abgeradelt. Voraussetzung für den Streckenverlauf war es jeweils, dass die Route möglichst nah an der Grenze liegt, möglichst komfortabel ist, häufig die Grenze quert – was vor 30 Jahren unmöglich war – und die Gedenkstätten integriert. In der Türkei haben mich besonders viele Mitradelnde begleitet – und ich war erstaunt von der Gastfreundschaft. Ich durfte nichts bezahlen. Aber meine Mitstreiter haben sich sehr über die Gegeneinladung nach Berlin gefreut, wo ich dann die Kosten übernehme. So entstehen Begegnungen, die nachhaltig sind.
Glauben Sie, dass Menschen, die an einer Grenze aufwachsen und leben, ein anderes Verhältnis zu Europa haben?
Ja, das ist auch während der Corona-Pandemie sehr deutlich geworden. Vor allem entlang der deutsch-französischen Grenze war das während der Grenzschließungen deutlich spürbar. Diese Menschen begegnen sich ganz selbstverständlich im Alltag und sie leben und arbeiten zusammen. Das habe ich auch auf der Rad-Route erfahren: Beispielsweise in Ungarn und Österreich – zum 20. Jahrestag des Paneuropäischen Picknicks sind wir gemeinsam auf dem Iron Curtain Trail von Sopron nach Köszeg geradelt – zusammen mit dem ungarischen Verteidigungsminister. Das war eine besondere Begegnung und Wertschätzung.
Zudem wurde dieser Abschnitt gemeinsam als Eurovelo-Route 13 ausgeschildert. Das ist noch nicht in allen Ländern realisiert. Polen hat es endlich gemacht, und auch die baltischen Staaten. Vorbild ist allerdings Serbien. Die haben die gesamten 710 Kilometer mit EV13 ausgeschildert und den Iron Curtain Trail an den Grenzen in serbischer und englischer Sprache erklärt. Die Serben sind nämlich stolz darauf, dass Jugoslawien nicht zum Warschauer Pakt gehört hat.
Tito hatte mit seinen Partisanen die deutschen und italienischen Faschisten bekämpft – ohne die Unterstützung von Stalin. Als er gesiegt hatte, wollte Stalin aber die Oberhoheit über Jugoslawien haben. Dem hat sich Tito 1948 verweigert und danach zusammen mit Indien und Ägypten die blockfreie Bewegung gegründet.
15 der 20 Länder, durch die Sie geradelt sind, sind inzwischen Mitgliedsstaaten der EU. In Vielfalt geeint – gilt das auch für die Natur der Strecken?
Absolut. Die Natur ist sehr vielfältig. Beispielsweise in Finnland: Dort bin ich einmal eine Strecke von 110 Kilometern geradelt. Die längste Tagesetappe meiner gesamten Tour. Aber dadurch, dass in Finnland alles flach ist und es abends im Sommer nicht dunkel wird, war das machbar. Zudem heißen die Radwege in Finnland „Straße", weil man dort oft nur alle halbe Stunde ein Auto sieht.
Als Sportlehrer haben Sie sicher gute physische Grundlagen für dieses Projekt mitgebracht. Aber wie haben Sie sich konkret darauf körperlich vorbereitet?
(lacht) Ich habe Sport studiert – und bin seit 40 Jahren ohne Auto mobil. In Berlin bin ich den Mauerweg abgeradelt, dann den deutsch-deutschen Radweg. Und meine erste Strecke im Harz werde ich nie vergessen – es war im Sommer, sehr heiß, hohe Ozonwerte – und normalerweise steige ich nie ab. Aber an diesem Tag ging es nicht mehr. Also stieg ich ab und merkte – oh, da bewegt man auch ganz andere Muskeln und nimmt die Umgebung anders war. Danach bin ich dann manchmal abgestiegen, was ich vorher nie gemacht hätte. Und seither halte ich es so: Es gibt kein Auf ohne ein Ab. Eine Herausforderung war auch die Strecke in Nordmazedonien, wozu ich eingeladen wurde: Es ging auf einen Pass –
1.400 Meter aufwärts. Und ich stand natürlich als Ehrengast unter besonderer Beobachtung und wollte auf keinen Fall absteigen. Aber für die große Mühe des Aufstiegs wurde ich dann belohnt: Eine halbe Stunde nur bergab – ein traumhafter Blick zur griechischen Grenze. Daher: Es gibt kein Auf ohne ein Ab.
Was war denn eine Enttäuschung auf dem Iron Curtain Trail?
Ja, auch das gab es. Beispielsweise in Rumänien auf der Donauseite muss man 70 Kilometer auf einer stark befahrenen Hauptverkehrsstraße radeln. Ich habe an alle Minister geschrieben, um das zu ändern und die Route sicherer zu machen. Auch dadurch, dass man das Rad im Zug mitnehmen darf, der parallel dazu fährt. Leider ohne Erfolg. Deshalb bevorzugen die Radtouristen lieber die Route auf der serbischen Seite.
Welche Strecke raten Sie einem Beginner auf dem Iron Curtin Trail?
Wer auch die Natur besonders mag, dem empfehle ich, nach Finnland zu gehen oder nach Norwegen. Am besten am Ende eines heißen Sommers, weil es dann keine Moskitos mehr gibt. Und die Autofahrer sind dort sehr rücksichtsvoll gegenüber Radelnden. Ich sage immer, man wird dort behandelt wie ein Rentier. Immer wenn ein Autofahrer dort ein Rentier sieht, bremst er abrupt ab, weil er nicht weiß, wie die sich bewegen. So verhält es sich auch mit den Radelnden. (lacht) Ein weiterer Vorteil ist natürlich, dass es flach ist. Die Straßen sind fast alle asphaltiert und man fährt ewig durch Wald – für einen westeuropäischen Städter ein absoluter Genuss. Sehr empfehlenswert ist auch das Burgenland mit seinen Gedenkstätten oder die baltischen Staaten. Die Grenze war ja damals die Ostsee – dort gibt es ebenfalls interessante historische Mahnmale zu entdecken. Und auch entlang der bulgarisch-türkischen Grenze, wenn man die Reste vom früheren Eisernen Vorhang sieht und den neuen höheren Grenzzaun.
Corona hat den Radfahr-Trend weiter beschleunigt. Erleben Sie das auch so?
Ja, und ich glaube auch nicht, dass es schnell wieder zurückgeht. Denn wenn man einmal umgestiegen ist, weiß man die Vorteile zu schätzen. In Berlin ist die Durchschnittsgeschwindigkeit für Autos 18 Stundenkilometer. Da bin ich mit dem Rad viel schneller unterwegs. Der Radtourismus boomt schon seit zwei Jahrzehnten – in der EU mit einer jährlichen Zuwachsrate von 20 Prozent – und wird nun weiter gestärkt werden. Die Regionen des Iron Curtain Trails, die als „Zonenrandgebiet" während der Spaltung sehr gelitten haben, können das sehr positiv nutzen. Rad-Touristen sind heute sehr begehrt, weil sie meist gerne und gut leben und auch entsprechend Geld dafür ausgeben. Eine Schweizer Studie hat herausgefunden, dass ein Radtourist ohne Übernachtung 35 Euro pro Tag ausgibt, ein Autotourist nur zehn Euro. Das ist sehr gut für die lokale Ökonomie.
Sie sind ihn nun komplett abgeradelt – hatten unzählige Begegnungen und tolle Erlebnisse. Aber was wünschen Sie Europa – 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs?
Natürlich, dass die Länder Europas noch besser kooperieren. Deutschland könnte dabei von der EU lernen, weil Fernradwege – anders als in Deutschland, wo sie im Bundesverkehrswegeplan ignoriert werden – auch von der EU-Kommission gefördert werden. Die grenzüberschreitende Kooperation muss besser werden. Es gibt keine Garantie, dass es keine neuen Zäune und Mauern geben wird an den Grenzen. Deshalb wünsche ich mir, dass die Menschen wachsam bleiben, damit so etwas nicht mehr entsteht.