Den Vorsitz der Europaministerkonferenz hatte sich Peter Strobel anders vorgestellt. Angedachte Initiativen sind wegen Corona auf Eis gelegt. Dafür haben sich andere Themen in den Vordergrund gedrängt, die dem Saarland durchaus gelegen kommen.
Herr Strobel, welchen Einfluss hat der Vorsitzende der Europaminister der Länder im Bund?
Den Vorsitz der EMK sollte man nicht unterschätzen, denn Politik wird immer von Menschen für Menschen gemacht. Und gerade wir Saarländer sind in gewisser Weise eine Art Scharnier zwischen Deutschland und Frankreich beziehungsweise Deutschland und Luxemburg. Wir bekommen schon durch die Nähe zu unseren Nachbarn jenseits der Grenze mit, wo gerade etwas schiefläuft. So können wir dann oftmals als Erste auf den entsprechenden Konferenzen der Länderminister gegensteuern, aber auch dann im direkten Austausch mit dem Kanzleramt auf mögliche Missstände hinweisen. Also die Stimmen der Europaministerkonferenz werden durchaus gehört und sind entscheidend.
Weil sie einfach näher dran sind?
Durchaus, ja! Allein beim Lockdown im März haben wir im Saarland, aber auch meine Ministerkollegen an den EU-Binnengrenzen mitbekommen, was Europa bedeutet und wie eng wir zusammengewachsen sind. Wenn die Menschen plötzlich auf der anderen Seite der Grenze, die wir längst vergessen hatten, nicht mehr arbeiten gehen können. Das bekommt man in Saarbrücken unmittelbar, im Kanzleramt erst verzögert in dieser Wucht mit. Deshalb ist es gut, dass es diesen engen Austausch der Europaminister der Länder und dem Kanzleramt gibt. Selbstverständlich gibt es diesen Austausch auch mit dem Auswärtigen Amt, denn auch dort werden wichtige europäische Entscheidungen getroffen.
Eine Kernaussage von Ihnen ist: Coronabedingte Grenzschließungen darf es nie wieder geben.
Und dabei bleibe ich. Wir müssen andere Lösungen finden, um mögliche Hotspots in den Griff zu bekommen, als den freien Verkehr innerhalb einer Region völlig willkürlich nach altüberbrachten Grenzen zu schließen. Wie gesagt, längst sind die Menschen über diese, noch auf dem Papier bestehenden nationalen EU-Grenzen zusammengewachsen, haben ihr Leben entsprechend organisiert. Darum müssen wir im Fall eines begrenzten Hotspots, diesen auch einkreisen. Es darf nicht noch mal passieren, dass ganze Regionen dann stillgelegt und die Menschen in ihrem Lebensumfeld eingeschränkt werden.
Also Ihr Fernziel ist mehr Eigenregie in Großregionen wie zum Beispiel Saar-Lor-Lux, jenseits nationalstaatlicher Zuständigkeit?
Ganz genau, und zwar nicht nur in Pandemie-Zeiten, sondern solche Großregionen begreife ich als politischen Auftrag. Wir haben Pendlerströme zwischen Frankreich, Luxemburg, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland von mehr als 200.000 Menschen täglich. Das ist ein tagtäglicher Arbeits- aber auch Kulturraum und den muss man auch gemeinsam denken, in guten, wie in schwierigen Zeiten. Momentan stehen wir vor einer Mammutaufgabe. Aber darin liegen auch Chancen. Wir können die Situation jetzt nutzen, um gemeinsame Mechanismen für die Zukunft zu testen. Da geht es dann beispielsweise um grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung aber auch ganz einfach um solche Dinge wie ein einheitliches Ticket für den ÖPNV für unsere Großregion.
Aber dann war ja der Corona-Ausnahmezustand eher ein Katalysator für Ihre Idee, Europa in Großregionen zu denken?
Ja, das mag merkwürdig klingen, aber dieser Ausnahmezustand hat die Idee der Großregion den Menschen tatsächlich vergegenwärtigt. Er hat ihnen ganz deutlich vor Augen geführt, wo wir hier leben und worauf es ankommt. Er hat gezeigt, dass offene Grenzen eben keine Selbstverständlichkeit sind, sondern eine Freiheit, die es zu schätzen und zu verteidigen gilt. Wie eng verzahnt wir hier leben, haben wir gesehen, als Corona-Kranke aus Frankreich in unsere Notaufnahmen gekommen sind und wir sie selbstverständlich aufgenommen und behandelt haben. Wir stehen auch in schlechten Zeiten mit unseren Nachbarn zusammen. Als es in Frankreich einen Engpass bei den Schutzmasken gab, habe ich Einwegmasken zu unseren Nachbarn gebracht. Umgekehrt bin ich mir sicher, dass unsere französischen und luxemburgischen Freunde das auch machen würden, sollte es solch eine Situation bei uns geben. Ich glaube, Corona hat gezeigt, dass es gut ist, wenn wir Europa in Regionen denken. Da sind wir mittlerweile ein ganzes Stück weitergekommen.
Wie muss man sich Ihre Arbeit jetzt nach diesen Erfahrungen vorstellen? Ein Positionspapier schreiben und an die Kanzlerin schicken?
Nein, ganz so einfach ist das natürlich nicht. Das Ganze ist ein vielschichtiger Weg, den ich als Vorsitzender der Europaministerkonferenz zurücklegen muss. Jetzt geht es darum, die Erfahrungen zu sammeln. Auch andere Bundesländer mit Außengrenzen haben ja ähnliche Geschichten erlebt, wie wir im Saarland. Wir werden in einem ersten Schritt diese Erfahrungen bündeln und Erkenntnisse daraus ziehen, die für uns als Grenzregionen wichtig sind.
Der Weg geht über den Bundesrat, den Bundestag, das Auswärtige Amt und natürlich auch über das Kanzleramt. Unsere Ideen werden dann auch gemeinsam beraten und fließen so in die Europa-Politik der Bundesregierung ein. Auf der anderen Seite haben ja auch die anderen 26 EU-Staaten ihre Grenzerfahrungen während des Lockdowns und der geschlossenen Grenzen gemacht, und oftmals ergeben sich dann in der EU Überschneidungen, mit denen so keiner gerechnet hat, und das kann Entscheidungen erheblich beeinflussen.
Also eine beratende Tätigkeit der Europaminister der Länder?
Wenn man so will: Ja, aber eine ganz spannende! Es bietet sich die Möglichkeit einer politischen Initiative bei der Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Polen und Deutschland, also dem sogenannten Weimarer Dreieck. Da könnten wir drei etwas auf EU-Ebene anschieben, immerhin sind wir die Mitte Europas. Wobei ich schon meine Bedenken habe, was Polens Verhältnis zur Rechtsstaatlichkeit angeht, aber man sollte nichts unversucht lassen. Auch wenn ich klar dafür bin, dass ein Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit Folgen haben muss, zum Beispiel bei der Verteilung der der EU-Finanzmittel. Aber trotzdem sollte man nicht die Initiative aufgeben, mit Polen enger zusammenzuarbeiten, sie intensiver einzubinden, es zumindest zu versuchen.
Also ist die EU doch eher eine Werteunion und nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft?
Nein, die EU ist keine reine Wirtschafts- sondern ganz besonders eine Werteunion, das ist ganz wichtig, und das dürfen wir auch nie vergessen. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, dass wir unsere gemeinsamen Werte jetzt neu festschreiben müssen.
Aber Ungarn und Polen definieren ja ihre Werte mit einem sehr eigenen Demokratieverständnis, wie wollen Sie unsere Einstellung vermitteln?
Da wird man sich jetzt zum Beispiel sehr genau anschauen müssen, ob die umgekehrte, qualifizierte Mehrheit ein Weg ist, dass wir auch in Streitfällen innerhalb Europas entscheidungsfähig bleiben. Wenn wir merken, dass wir mit dem Einstimmigkeitsprinzip nicht weiterkommen, dürfen wir ja nicht unsere Handlungsfähigkeit aufs Spiel setzen. So nehmen uns als Europäer weder die Amerikaner noch die Chinesen ernst. Ganz klar, die Rosinenpickerei muss aufhören, es kann sich nicht jeder nur das nehmen, was er möchte, was ihm Vorteile verschafft, und dann sollen die anderen sehen, wie sie mit dem Rest klarkommen. So geht es nicht. Das ist nicht das Europa, das ich mir vorstelle.
Auf Deutsch: Um die EU handlungsfähig zu halten, braucht es ein Sanktionierungsinstrument?
Leider Gottes, ja. Ich habe immer auf die Einsicht in gewisse Notwendigkeiten gehofft, auf die Erkenntnis, dass eine Gemeinschaft nur funktioniert, wenn man Kompromisse schließt. Doch leider muss ich erkennen, es funktioniert nicht immer und wir brauchen klare Sanktionen. Im Zweifelsfall müssen wir dann auf die Einstimmigkeit der 27 EU-Staaten verzichten. Es kann doch nicht sein, dass der Europäische Gerichtshof zum Beispiel bei der Aufnahme von Flüchtlingen die klare Entscheidung trifft, dass sich alle Staaten an die vereinbarten Verteilschlüssel zu halten haben. Aber bestimmte Staaten dann einfach sagen, das interessiert uns nicht, wir nehmen keine Flüchtlinge auf, und das hat dann keinerlei Folgen. Das kann nicht sein. Sonst kommen auch andere Staaten auf die Idee, sich künftig nicht mehr an bestimmte Vorgaben halten zu müssen, nur weil sie nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Damit hätte sich die Idee der EU komplett erledigt.
Aber klare Sanktionen heißt, wir streichen Ungarn oder Polen beispielsweise dann eben die Agrarhilfen?
Genau das ist das Problem, denn dann treffen wir genau die Menschen, die wir nicht treffen wollen, die für ihre Staatsführung und deren Entscheidungen nichts können. Aber Sanktionen können eben nur über finanzielle Zuwendungen der EU laufen, eine andere brauchbare Möglichkeit sehe ich nicht. Wir müssen als EU nur aufpassen, dass es nicht die ohnehin Benachteiligten in den betroffenen Ländern trifft. Denn im Umkehrschluss werden die sich dann als Wähler gegen die EU wenden, und das kann ja absolut nicht in unserem Sinne sein.