Der Ausschuss der Regionen (AdR) auf europäischer Ebene steht selten im Rampenlicht. Umso wichtiger – und einflussreicher – ist er für die Interessen der Regionen in Europa. Vizepräsidentin Isolde Ries über Pandemiefolgen, Stahl und Grenzregionen.
Frau Ries, welchen Einfluss hat dieser Ausschuss für Europa und die Politik der EU?
Der AdR ist deshalb so wichtig, weil 70 Prozent aller Entscheidungen in Brüssel von den Regionen und den lokalen Gebietskörperschaften umgesetzt werden. Da fällt drunter: Gesundheit, Bildung, Beschäftigung, Sozialpolitik, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, der Klimawandel, Verkehr und Energie. Es sind nur wenige Bereiche, die nicht betroffen sind. Und da gilt das Subsidiaritätsprinzip. Das heißt: Die unterste Ebene, die zuständig ist, muss immer auch mit eingebunden sein. Ohne die Mitwirkung der Regionen und Länder passiert gar nichts. Wir als Mitglieder des Ausschusses der Regionen (AdR) repräsentieren unsere Regionen und machen die Stimmen dieser Menschen in Brüssel hörbar. So sehe ich mich auch: als die Stimme der Menschen vor Ort. Wir sorgen für die Einbindung der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften in die EU. Denn die EU ist nicht nur die Europäische Kommission, der Rat der EU und das Europäische Parlament – die EU sind wir alle. Die Europäische Kommission, der Rat der EU und das Europäische Parlament müssen den AdR anhören. Das heißt nicht sollen oder können – sie müssen es tun! Und wenn sie es nicht tun, können wir vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Bisher haben wir das allerdings nicht machen müssen. Wir hatten es 2018 einmal vor, da ging es um das Vorhaben der EU-Kommission, die Vorschriften für die Regionalfonds der EU für 2014 bis 2020 zu ändern, um Mittel der EU-Kohäsionspolitik zur Unterstützung von Strukturreformen in den Mitgliedsstaaten abzuzweigen. Dieser Legislativvorschlag der Kommission hätte gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Wir haben das erfolgreich verhindert.
Haben Sie Beispiele für Themen, die aus dem Saarland in den AdR eingebracht wurden?
Ich habe zum Beispiel schon zwei Stellungnahmen erarbeitet: „Transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen in der EU". Da ging es um die Mindestarbeitsbedingungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die beachtet werden müssen. Der Titel der zweiten Stellungnahme war „Die Stahlindustrie –
Erhaltung von dauerhaften Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum in Europa". Beide Stellungnahmen sind mit großer Mehrheit angenommen worden, was angesichts der Pluralität der Regionen keine Selbstverständlichkeit ist. Aber auch als China der Marktwirtschaftsstatus zugestanden wurde, musste eine neue Methode zur Berechnung von Antidumpingspannen her, diese ist in unserem saarländischen Wirtschaftsministerium mit erarbeitet worden.
Stahl ist ein gutes Stichwort. Das ist ja besonders auch im Saarland ein sehr relevantes Thema.
Es wird oft gesagt, dass der AdR ja nur ein Mitspracherecht und kein Stimmrecht hat. Gerade im Stahlbereich haben wir gezeigt, dass wir trotzdem „mitbestimmen", durch gute Argumente. Wir haben dafür gesorgt, dass beispielsweise im Falle von Antidumping- und Antisubventionsverfahren die „Lesser Duty Rule" aktuell bei Einhaltung bestimmter Kriterien nicht mehr angewendet wird. Wenn früher Stahlprodukte nach Europa gekommen sind und die Welthandelsorganisation WTO Vorgaben für den Zoll gemacht hat, dann konnte Europa darauf einen geringeren Zoll erheben. Das war ein Wettbewerbsvorteil für diejenigen Länder, die ihren Stahl nach Europa gebracht haben und ein Nachteil für unsere Industrie. Wir haben erreicht, dass diese Regel des niedrigeren Zolls nicht mehr zwingend praktiziert werden muss. Aktuell ist das Beihilferecht ein wichtiges Thema. Es ist im Moment vom Grundsatz her nicht zulässig, dass der Staat der Industrie Beihilfen für die Umstellung der Produktion auf nachhaltig CO2-ärmere beziehungsweise CO2-freie Produktionsweisen zahlt. Die Umstellung kann aber nur dann funktionieren, wenn es der EU und dem Bund gelingt, nachhaltige Investitionsperspektiven und gesetzliche Rahmenbedingungen für die im Wettbewerb stehende Stahlindustrie zu schaffen. Dafür braucht die Industrie finanzielle Unterstützung bei den Investitions- und den Betriebskosten.
Dazu gab es Gespräche mit Frans Timmermans, dem Vizepräsidenten der EU-Kommission. Es sieht so aus, dass im nächsten halben Jahr das Wettbewerbsrecht so verändert wird, dass solche Beihilfen gezahlt werden dürfen. Eine weitere offene Baustelle haben wir im Außenhandel. Im Stahlsektor gibt es die sogenannten Safeguards, also Schutzmaßnahmen, die sprunghafte Handelsumlenkungen aus Drittstaaten verhindern sollen. Deren Wirksamkeit ist trotz einiger Anpassungen in jüngster Zeit fraglich. Bei einer Wiederbelebung der Konjunktur müssen diese Schutzklauselmaßnahmen im Stahlsektor rasch nachgeschärft werden, weil damit zu rechnen ist, dass wieder vermehrt Stahl von überall her – China, Russland, Korea, Indonesien – auf den europäischen Markt drängt. Wir müssen auch eine CO2-Grenzsteuer diskutieren. Dies hat erfreulicherweise die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Rahmen ihres Green-Deal-Pakets mit aufgegriffen. Die „Carbon Border Tax Adjustments" zielen auf einen Ausgleich unterschiedlicher Klimaschutzstandards im internationalen Handel ab.
Bedeutet, wenn ein Produkt auf den europäischen Markt kommt, das nicht so klimafreundlich produziert wurde, werden dieses Produkt und dessen klimaschutzpolitischer Fußabdruck durch eine zusätzliche Steuer verteuert. Damit kann unsere Industrie wettbewerbsfähig bleiben. Gleichzeitig müssen aber auch die kostenlose Zertifikatszuteilung und die Strompreiskompensation für die Grundstoffindustrien beibehalten werden. Unser Wohlstand in Deutschland hängt maßgeblich von dem großen Industrie-Anteil ab – gerade auch im Saarland. Wir müssen der Industrie bei der schrittweisen Transformation helfen. Wir haben rund 20.000 Arbeitsplätze im Saarland, die direkt und indirekt vom Stahl abhängig sind.
Ein anderes Thema: Großbritannien hat die EU verlassen – mit einigen Konsequenzen. Hatte der Brexit auch Auswirkungen auf den AdR?
Das war schon schade. Wir hatten 350 Mitglieder, jetzt sind es noch 329. Großbritannien hatte 24 Mitglieder. Jetzt haben wir es so gemacht, dass Zypern, Malta und Luxemburg ein weiteres Mandat erhalten haben. 21 Mandate haben wir gestrichen. Für den Fall, dass Großbritannien wieder zurückkäme oder andere Länder hinzukommen, würden wir diese noch mal aufstocken. Die Briten waren – was die Belange der Regionen betrifft – nicht die Schlechtesten in unseren Reihen. Aber auch da waren Egoismen auf dem Vormarsch …
Von Egoismen wird innerhalb der EU ja auch immer häufiger gesprochen …
Es gibt Dinge, die mir in der EU nicht gefallen. Das ist zum Beispiel der nationale Egoismus, der sich zunehmend breitmacht. Das Streben nach dem eigenen Vorteil scheint aktuell gefährlich auf dem Vormarsch zu sein. Beispiele sind die ungelöste Flüchtlingsfrage, rechtspopulistische Hasardeure und demokratiefeindliche Elemente. Aber, das möchte ich auch sagen, das ist kein Grund zur Resignation. Es gilt vielmehr, gemeinsam mit den fortschrittlichen Kräften in der EU den europäischen Gedanken zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Die EU ist eine Wertegemeinschaft, sie ist also mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft.
Wie kann der AdR dabei helfen, diese oder auch andere europäische Herausforderungen zu lösen?
Es geht zunächst einmal darum, die Anliegen der Regionen sichtbar zu machen. Das ist für die Zukunft Europas existenziell. Deshalb ist es umso wichtiger, die regionale Perspektive in Europa stärker in die Diskussion einzuführen. Wenn sich breite Schichten der europäischen Bevölkerung mit der europäischen Idee nicht mehr identifizieren können, ist das Projekt gescheitert. So wäre es schädlich, wenn zum Beispiel der Stahl künftig nicht mehr hier vor Ort ökologisch und sozial verbindlich produziert werden könnte, sondern Dumping-Stahl mit deutlich höheren CO2-Emissionen aus Tausenden Kilometern Entfernung nach Europa verschifft werden würde. Hier muss die EU als wesentlicher Marktakteur einschreiten und die weitere Modernisierung unserer Industrien auch finanziell unterstützen. Das erwarten die Menschen in meiner Heimat.
Was steht denn außerdem aktuell auf der Agenda?
Die Krisenbewältigung. Das ist ganz wichtig. Seit der Gründung der EU gab es keine globale Krisensituation mit solchen Herausforderungen wie jetzt durch die Corona-Krise. Aufgrund der Pandemie und des Lockdowns kommt es zu einem so nie dagewesenen wirtschaftlichen Einbruch – mit Arbeitsplatzverlusten, Steuerausfällen und ganz vielen Insolvenzen. Da wird noch einiges auf uns zukommen. Da haben wir in Deutschland noch gut reagiert, beispielsweise mit dem Kurzarbeitergeld. In anderen Ländern lief es oft nicht so gut. Der gemeinsame Binnenmarkt ist das Rückgrat der EU, da müssen wir schauen, dass dieser funktioniert. Da gilt es zusammenzuhalten. Da ist es wichtig, dass die großen Volkswirtschaften wie Deutschland und Frankreich politisch und wirtschaftlich Motor der EU bleiben. Dass das funktioniert, haben sie jetzt gezeigt bei der Einrichtung des Wiederaufbaufonds. Dort werden 500 Milliarden Euro in der EU für den Wiederaufbau bereitgestellt. Dazu gehören auch der Green Deal und viele weitere Maßnahmen, damit die Wirtschaft wieder anspringt. Die Probleme in der EU müssen in gemeinsamer Solidarität angegangen werden.
Was kann Europa durch Grenzregionen, wie beispielsweise dem Saarland, lernen?
In den Grenzregionen wird Europa im Kleinen gelebt. Europa ist da, wo europäisch gelebt und gedacht wird. Wir leben hier ohne sichtbare Grenzen. In der Tat, es muss noch einiges getan werden. Das Saarland als Grenzregion kann da Vorbild sein. Wenn Europa überall so gut funktionieren würde wie in unserer Großregion, dann wären wir schon ein gutes Stück weiter. Hier leben und arbeiten wir gemeinsam. Hier wird nicht nur über Europa gesprochen, wir leben Europa jeden Tag. Diese Perspektive ist unendlich wichtig, wenn man verstehen will, was die EU zusammenhält. Gegen nationale Egoismen hilft am besten die Gemeinsamkeit des Alltags.
Im Zuge der Corona-Krise haben die Grenzen plötzlich doch wieder eine Rolle gespielt. Wie ist die Lage nach den Grenzschließungen?
Die Grenzschließungen waren etwas ganz Schlimmes. Die Bewegungsfreiheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger ohne Grenzkontrollen ist eine der Errungenschaften der Europäischen Union. Ein Europa ohne Schlagbäume. Und dass plötzlich wieder Kontrollen stattgefunden haben, das war schwer zu ertragen. Das darf auch, nicht nur in meinen Augen, nicht mehr passieren. Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, wie verletzlich die Welt ist. Auch 70 Jahre nach der Schuman-Erklärung scheint es diesen Ur-Reflex der Länder immer noch zu geben. Wenn irgendein Problem entsteht, dann schließen die Staaten erst einmal die Grenzen. Das war bei der Terrorismusfrage so, das war bei der Migrationsfrage so, und das war jetzt auch bei Corona so. Viele sind der Meinung, dass die Probleme dadurch gelöst werden, aber genau das stimmt ja nicht. Geschlossene Grenzen bringen überhaupt nichts. Aus meiner Sicht haben aber nicht die Grenzschließungen selbst das meiste Porzellan zerschlagen, sondern der teilweise schroffe Umgang mit unseren Partnern. Hier haben nicht alle Mitglieder der Landesregierung das nötige diplomatische Fingerspitzengefühl an den Tag gelegt, und leider hat der Ministerpräsident es versäumt, ein Machtwort an die eigenen Reihen zu richten. Eine Politik der helfenden Hände statt der dicken Arme wäre sicherlich besser gewesen. Jetzt ist es wichtig, die nötigen Schlüsse aus den vergangenen Monaten zu ziehen. Wir brauchen eine engere Abstimmung auf den Ebenen der Regierungen, ein grenzüberschreitendes Krisenmanagement und mehr Zusammenarbeit in allen politischen Bereichen.
Wie wichtig ist diese deutsch-französische Freundschaft für Europa?
Sie bleibt der Motor Europas. Wenn sich die beiden größten europäischen Volkswirtschaften einig sind, kommt die EU voran. Als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle damals den Elysée-Vertrag auf den Weg gebracht haben – das ist 57 Jahre her – da haben sie gesagt: „Wenn Menschen zusammenfinden, wird es in Europa keinen Krieg mehr geben." Es hat auch keinen Krieg mehr in der Europäischen Union gegeben. Wenn man zusammenarbeitet, zusammen lebt, sich kennenlernt und einander vertraut, dann schießt man nicht aufeinander. François Mitterrand hat einmal gesagt: „Die deutsch-französische Freundschaft versteht sich nicht von selbst. Sie ist weder natürlich, noch automatisch." Das heißt, dass die deutsch-französische Freundschaft ständig gepflegt werden muss. Nur so können wir gemeinsam in die Zukunft gehen. Daher war es auch gut, dass Angela Merkel und Emmanuel Macron den Wiederaufbaufonds gemeinsam durchgesetzt haben. Es wird schwierig sein, die Rolle von Angela Merkel als international anerkannte Vermittlerin zu ersetzen. Deshalb braucht ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger unbedingt Regierungserfahrung auf Bundesebene. Sie können sich vorstellen, dass ich mich daher über die Nominierung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD sehr gefreut habe.