Der Sommer ist ganz schön heiß. Nicht nur der Temperaturen wegen, sondern weil Unterwäsche auch als neue Oberbekleidung von jungen Frauen getragen wird. Mal offenherzig, mal dezent.
Was eine Königin sich schon vor Jahrhunderten zu tragen traute, scheint viele Designer inspiriert zu haben. Denn Underwear als Outerwear ist einer der heißesten Trends für die warmen Tage des Jahres. Königin Marie Antoinette von Frankreich ließ sich 1783 für ein Porträt der seinerzeit berühmten Malerin Elisabeth Vigée-Lebrun in einem hauchzarten weißen Muselin-Kleidchen auf die Leinwand bannen. Damals ein Riesenskandal, weil es sich bei dem Dress um ein Lingerie-Teil gehandelt hatte, in dem adlige Damen sich allenfalls in ihrem privaten Boudoir zeigten. Im Vergleich zu den aktuellen Trendstücken, die weit über den noch vor wenigen Jahren umstrittenen Pyjama-Look hinausgehen, wirkte das königliche Kleidchen allerdings noch mehr als züchtig.
Danach sollte es bis in die Goldenen Zwanziger dauern, bis die kecken Flapper, auch als frühes Zeichen der weiblichen Emanzipation, in bodyähnlichen Teilen und an Unterwäsche erinnernden Kleidern die angesagten Clubs ihrer Zeit stürmten. In den 1930er-Jahren griffen renommierte Designerinnen wie Madeleine Vionnet oder die legendäre Madame Grès den Flapper-Look auf und entwarfen sogenannte Bias-Cut-Dresses mit schrägem Zuschnitt, die dank feinstem Satin den weiblichen Körper mehr enthüllten als verdeckten und von Glamour-Diven wie Jean Harlow, Greta Garbo oder Marlene Dietrich getragen wurden und kurzzeitig zu einem Synonym lässiger femininer Sinnlichkeit werden sollten.
Doch der eigentliche Vorläufer des aktuellen Trends, nach bauchfreien Oberteilen namens Cropped Tops der 70er-Jahre, die teilweise kaum mehr Material als ein BH aufwiesen, sollte erst in den 80er-Jahren auftauchen. Dank der Protagonistin Madonna wurden Korsette und BHs aus dem unsichtbaren Intimbereich in die visuelle Öffentlichkeit befördert. Auf dem Cover ihres 1984 veröffentlichten Albums „Like a Virgin" präsentierte sich der Megastar im Spitzen-Bustier. Noch spektakulärer war ihr von Jean Paul Gaultier entworfenes Bühnen-Outfit für ihre „Blond Ambition"-Tour im Jahr 1990 mit raketenähnlichem BHs oder Korsagen mit extrem spitzen Körbchen. Damit wurde, auch dank Helmut Langs etwa gleichzeitig geschneiderten unterwäscheähnlichen Kreationen, erstmals der Look in der Fashion-Welt salonfähig gemacht.
BH’s lugten hier und da mal raus
In den 90er-Jahren folgte der nächste Schritt auf dem Weg, die Unterwäsche Richtung Oberbekleidung umzuwandeln. Sport-BH, Slip-Dresses aus Satin oder Chiffon mit reichlich Spitze, in denen sich 1996 keine Geringere als Lady Diana präsentierte, sichtbare Büstenhalter, die 1998 Sarah Jessica Parker alias Carrie Bradshaw in „Sex and the City" ihren Serienfans zeigte, BH-Träger auf nackter Haut, Tanktops getaufte Trägerhemdchen oder hervorblitzende Miederteile wurden im Streetstyle salonfähig. Der Aufforderung in Rapper Sisqós Chartstürmer „The Thong Song" aus dem Jahr 2000 an die Ladys, ihren Stringtanga herausblitzen zu lassen, folgte beispielsweise Christina Aguilera bereitwillig in ihrem Video für den Song „Dirty" aus dem Jahr 2002. Danach sackten die Hosen auch im Streetstyle ein ganzes Stück nach unten und legten massenweise Tanga-Stöffchen frei. Die BHs erhielten Konkurrenz durch die bequemere, bügellose Variante Bralettes. Lady Gaga sorgte mit ihren Bühnen-Outfits dafür, dass Bustiers (bei ihr mit Glitzersteinchen überzogen) weiter populär wurden. Während Vivienne Westwood sich Verdienste um das Korsett-Comeback erwarb, das zuvor schon in der Punk- und Gothic-Szene neue Anhängerinnen gefunden hatte.
Schließlich muss auch noch der Kardashian-Clan erwähnt werden, der seit den Anfängen von Instagram nicht nur das Posieren im BH als Oberteil-Alternative in den sozialen Medien eingeführt hatte, sondern ab 2018 auch den Body als alltagstaugliche Outerwear in Person von Kim Kardashian gepusht hatte. Von bis zum Bauchnabel heraufgezogenen und durch tiefe Hosensäume freigelegten Strumpfhosen gar nicht zu reden. Selbst Radlerhosen verpasste Kim Kardashian 2019 durch Spitzenbesatz einen Underwear-Appeal, nachdem diese feminine Verwandlung der Hose bereits ein Jahr zuvor von Designern wie Nina Ricci, Saint Laurent oder Off-White auf den Laufstegen vorgestellt worden war. Gigi Hadid war Ende 2019 eine der letzten Instagram-Promi-Ladys, die im Gefolge von Rihanna, Kate Moss, Kendal Jenner oder Bella Hadid auf den „Lingerie apparente"-Trendzug, wie er im Französischen genannt wird, aufgesprungen war. Sie wurde in New York mit durchsichtigem Rollkragenteil gesichtet, unter dem sich der schwarze BH offenherzig den neugierigen Blicken preisgab.
Feminine Verwandlungen
Blogger-Weltführerin Chiara Ferragni hatte übrigens in einem Dior-Kleid geheiratet, unter dem die logobehafteten BH-Träger des gleichen Labels freigelegt waren. Unterwäsche einfach über normaler Oberbekleidung zu tragen, wie es vor einigen Saisons beispielsweise Dries Van Noten mit einem Bustier über einem Top gemacht hatte, ist längst ein alter Hut geworden. Wer sich tatsächlich für Underwear als Outerwear interessiert, dem dürfte das kaum genügen. Zumal inzwischen sogar einige Special-Labels gegründet wurden, die genau das Konzept einer alltagstauglichen Lounge-Wear verfolgen, beispielsweise Sleeper, Fleur du Mal oder Attico. Mit deren Klamotten lässt sich dann gewissermaßen eine fröhliche Pyjama-Party rund um die Uhr feiern.
All die bislang genannten, ursprünglich der Underwear zugehörigen Stücke finden sich diesen Sommer auch als angesagte Oberbekleidung in den Kollektionen vieler Designer. Damit nicht genug wird das Portfolio auch noch durch freigelegte Strapse oder Strumpfhalter-Bänder ergänzt, beispielsweise bei Mugler oder Dion Lee. BH oder Bralettes sollten gemäß den Laufsteg-Vorgaben oder dem Beispiel von Promis wie Charlize Theron folgend im Sommer auf nackter Haut präsentiert oder etwas dezenter unter lässigen Blazern getragen werden. Am prägnantesten und ausgefallensten war der Underwear-Outerwear-Look fraglos bei Mugler umgesetzt. Der neue Kreativdirektor Casey Cadwallader hatte Supermodel Bella Hadid ein verführerisches Outfit auf den Leib geschneidert: Ein Bodystocking-Look in Schwarz mit Nylon-Strumpfhose, deren Nähte ungewöhnlicherweise auf den Bein-Vorderseiten verliefen. Okay, trotz eines über die Schulter gelegten cropped Blazer dürfte sich keine Frau damit vor die Tür trauen. Gleiches gilt übrigens für die Gucci-Umsetzung des neuen Trends, weil Lederpeitschen und Overknee-Stiefel als Beigabe doch schnell an Dominas erinnern. Sacai spielt dagegen etwas mit geheimnisvoller Verhüllung, indem er die Unterwäsche seiner Models unter hauchzartem Tüll hervorscheinen lässt. Auch bei Fendi, Valentino oder Nina Ricci lassen die durchsichtigen Kleider tiefe Blicke auf die Unterwäsche zu. Vera Wang hat sogar neben transparenten Bustiers die Bias-Cut-Dresses aus der Versenkung geholt. Und bei Charlotte Knowles feiern die Push-up-BHs der 90er fröhliche Wiederauferstehung. Wer sich erst einmal an die inzwischen längst schon etablierten Slip Dresses heranwagen möchte, wird in den aktuellen Kollektionen von Bluemarine oder Gabriela Hearst fündig werden können.