„Soll ich oder soll ich nicht?" – Das fragten sich sehr lange Zeit die Stars und Sternchen der Tennisszene, die sonst selbstverständlich zum Glitzer-Grand-Slam in Flushing Meadows reisen. In diesem Jahr steckt Corona den US Open bedenkliche Grenzen, aber eröffnet auch Chancen.
Die US Open werden gespielt … Die Spiele werden die Leute anregen, einen sicheren, gesunden Sport für sich selbst zu spielen." Katrina Adams, die den Posten der „Immediate Past President" bei der US-amerikanischen Tennisvereinigung USTA bekleidet, verkündete diese Entscheidung für das Grand Slam (31. August bis 13. September) im Juni wie eine Kampfansage an die jüngere Geschichte der lahmgelegten Tennistour. „Es macht finanziellen Sinn für Spieler und Turnier", bilanzierte USTA-CEO Mike Dowse. Doch sind damit die Ausgangsfragen der Organisatoren „Können wir den Wettbewerb sicher spielen?" und „Ist das großartig fürs Tennis?" wirklich beantwortet?
Kein Zweifel: Wer Tennis liebt, freut sich auf Spitzenleistungen und Drei-Gewinnsatz-Matches in einem Majors. Tour-Tennis lebt endlich wieder, nachdem sogar das grüne Idyll von Wimbledon gestrichen worden ist. Die Vermarktung des bunten Events in New York funktioniert heuer weniger marktschreierisch als sonst, vielmehr mit großer virtueller Inszenierung. Null Zuschauer vor Ort anstelle von bis zu 700.000 Besuchern: Das macht einen Unterschied, wo sonst Dollar-Tausender für Tickets ausgegeben werden. Ein wenig Geschäft mit dem gelben Ball bleibt. Investitionen in die Hartplatz-Anlage mit fast neuem Stadiondach müssen sich bezahlt machen. Mitarbeiter wollen ihre Arbeitsplätze behalten. Spieler sollen ihren Sport praktizieren und ihren Beruf ausüben. „Die US Open sind offen fürs Geschäft", betonte auch Stacey Allaster, die neue Turnier-Direktorin.
Den Beinamen „Open" trägt der amerikanische Grand Slam eigentlich, weil er offen für Teilnehmer ohne Ansehen von Staatszugehörigkeit, Status – ob Amateur oder Profi –, Geschlecht und Alter sein soll. Doch Offenheit und Freiheit liegen dieses Jahr im Widerstreit mit der Sicherheit. Australien lässt im Moment niemanden ausreisen: Ashleigh Barty, Nummer eins der Frauen im Welttennis, hat bereits abgesagt. Ebenso Nick Kyrgios, der in diesem Jahr spielerisch und menschlich punktet. Top-Spieler von Down Under werden also fehlen. Andere Spieler fühlen sich in der Zwickmühle zwischen der Corona-Präventionsformel „Bleib zu Hause" und ihrer Leidenschaft.
„Die US Open sind offen fürs Geschäft"
Siehe den Schotten Andy Murray, der sein Comeback erzwingen will und schon früh für die US Open und das vorangehende Event gemeldet hat. Zunächst mit Wildcard. Jetzt steht der dreimalige Grand-Slam-Sieger als aktuelle Nummer 129 der Weltrangliste sogar bereits im Hauptfeld. Sein Glück: Ein weiterer Australier, Alexei Popyrin, hat abgesagt. Murray, den die Queen für seine sportlichen Erfolge zum „Sir" geadelt hat, verteidigt seine eigene Zusage: „Ich vermisse es so sehr. Ich weiß nicht, wie viele große Turniere ich angesichts meiner Verletzungen noch werde spielen können", sagte er. Dem „Guardian" zufolge erwartet Murray, dass sich einige Spieler nicht an die Sicherheitsvorkehrungen halten und die „Bubble" verlassen werden. Der sportliche Kämpfer fordert für diesen Fall heftige Sanktionen. Dennoch sieht der 33-Jährige es als individuelle Entscheidung an, ob und wann man während der Pandemie reisen soll.
Die meisten Teilnehmer haben sich bereits für die Western und Southern Open, die ab 22. August ebenfalls in Flushing Meadows statt in Cincinnati inszeniert werden, in die „Bubble" begeben. So lohnt sich der Aufwand ein wenig mehr. Auch für die fast 200 der insgesamt 256 Spieler, die nach den ersten zwei Runden der US Open wieder abreisen müssen. Immerhin haben die Ausscheider ein größeres Zeitfenster und mehr Zeit für Quarantänen. Bis zu den Turnieren in Europa, die im September eng an eng starten sollen.
Rekord-Siegerin Serena Williams äußerte sich in einem Einspieler zur USTA-Pressekonferenz ähnlich wie Murray: „Ich bin so aufgeregt. Ich habe professionelles Tennis so sehr vermisst. Es ist verrückt. Ich kann es kaum erwarten, da zu sein." Für die 38-jährige Amerikanerin ist der Weg nicht weit und das Ziel verlockend: Sie könnte ihren 24. Grand-Slam-Titel gewinnen. Je mehr internationale Spitzenspielerinnen absagen, desto größer ist ihre Chance, ihre Ausnahme-karriere abzurunden.
Wie die anderen Teilnehmer wird Williams in einem US-Open-Hotel untergebracht sein. Oder in einer privaten Unterkunft, die von Security abgeschottet wird. Zur Unterhaltung werden die Spieler in ein Sportzentrum für Fußball, Golf, Basketball und Kino-Vorstellungen gebracht. In die Tennis-Arena darf nur eine Begleitperson mit. Insgesamt sind beim Event maximal drei Begleiter erlaubt.
Linienrichter nur auf den zwei Hauptcourts
Social Distancing in Höchstform: Nur auf den zwei Hauptcourts wird es Linienrichter geben, die restlichen Ball-Entscheidungen erledigt die Technik mit Hawk Eyes. Der Plan dahinter: So wenig Menschen wie möglich sollen am Rande der Matches dabei sein. Das schließt auch die Presse ein beziehungsweise aus.
Finden die Ärzte bei den regelmäßigen Tests Infizierte, werden diese für zehn Tage isoliert. Ihre Zimmergenossen dürfen zwei Wochen nicht vor die Tür. Laut einer Harvard-Studie verlief Covid-19 in New York bislang tödlicher als die Spanische Grippe 1918. Einem Vertrag zufolge, den der niederländische Doppelspieler Wesley Koolhof als Foto auf Twitter verbreitete, verzichten die Spieler für sich und ihre Begleiter – etwa im Falle von Tod oder auch schwerer Krankheiten – „freiwillig" auf Forderungen an alle Beteiligten, beispielsweise an den US-Tennisverband oder die Stadt New York. Dieser „Beipackzettel" der US Open, aus einer Region, die alles andere als Covid-19-frei ist, dürfte nicht wirklich Appetit auf den Big Apple machen.
Die Aussicht auf einen Gewinn verlockt mehr. Novak Djokovic hat sich von seiner Covid-19-Infizierung nach seiner Adria-Tour offenbar erholt und gab bekannt, dass er nach New York reist: „Es war keine leichte Entscheidung, aber die Aussicht wieder einen Wettbewerb zu spielen, finde ich sehr aufregend." Er habe hart gearbeitet und seinen Körper in Form gebracht, sodass er für neue Bedingungen bereit sei.
„Es war keine leichte Entscheidung"
Rafael Nadal, Vorjahressieger der US Open, macht hingegen das Feld frei für Djokovic oder auch den derzeit sehr ehrgeizigen Dominic Thiem, den Titel zu übernehmen. „Es sieht so aus, als hätten wir es noch immer nicht unter Kontrolle", twitterte der Spanier mit Bezug auf die wieder wachsende Zahl von Covid-19-Infektionen. Daher reise er lieber nicht, folge seinem Herzen und habe eine Entscheidung getroffen, die er nie treffen wollte. Mit Blick auf seine Zukunft und seinen Körper gibt der 34-Jährige an, den schnellen Wechsel von Hartplatz auf Sand zu scheuen. Denn nicht nur die French Open folgen im September: Das Masters von Rom ist auf den Termin der abgesagten Madrid Open gerutscht. Deshalb gehen die modernisierten Hamburg Open auf Sand direkt nach den US Open an den Start.
Keine Lust auf Risiko und New York haben beispielsweise Gaël Monfils (ATP-Rang 9), Fabio Fognini (ATP-Rang 11), Stan Wawrinka (ATP-Rang 17) und Simona Halep. Roger Federer nutzt die Ausnahme-Saison für eine Operation. Thiem, der zuletzt einen Marathon an Show-Events absolvierte, könnte deshalb problemlos an seine Final-Teilnahme bei den Australian Open im Januar anknüpfen. Der drittbeste Spieler der Welt hat beste Chancen, seinen ersten Grand-Slam-Titel zu holen und sich näher an den Spitzenplatz der Weltrangliste heranzuarbeiten. Gegenüber dem österreichischen „Standard" relativierte der 26-Jährige: „Ein eventuelles Weitkommen bei diesem Turnier wäre weniger wert als es in Australien war." Dennoch sind die US Open spannend genug, als Zuschauer wenigstens via Fernsehen dabei zu sein: „Servus TV" überträgt im Free TV.
Treffen wird Thiem seinen Freund Alexander Zverev, genannt Sascha, der sich diesen speziellen Grand Slam doch nicht entgehen lassen möchte. Auch Jan-Lennard Struff, der zweitbeste Deutsche, sowie Laura Siegemund sind mit guten Chancen vor Ort. Julia Görges hingegen will sich und ihr Team schützen und konzentriert sich daher auf die europäischen Sandplatz-Turniere. Die Vorjahres-Championesse Bianca Andreescu verzichtet auf eine Teilnahme. „Mangelnde Vorbereitung" während der Pandemie nannte die 20-jährige Kanadierin als Grund. Die US-Open-Siegerin von 2016, Angelique Kerber, wird trotz der Pandemie am Turnier teilnehmen. Doch die Liste der „Withdrawals" (deutsch: Rückzüge) prominenter Spieler wächst weiter und die Veranstalter halten die Bekanntgabe des Teilnehmerfeldes demgemäß bis zuletzt „offen", was sonst.