Die Detonation von Beirut hat eine humanitäre Katastrophe ausgelöst. Gleichzeitig wird die ohnehin labile Region noch ein Stück unsicherer. Für die EU ist das aus unterschiedlichen Gründen eine Herausforderung.
Der Urknall kam am 4. August um 18.08 Uhr Beiruter Ortszeit: Die massive Explosion in einem riesigen Kunstdüngerlager riss innerhalb von Sekunden rund 200 Menschen in den Tod, verletzte mindestens 3.000 Personen, machte auf einen Schlag 300.000 Libanesen obdachlos und vernichtete fast die gesamten Getreidevorräte des Landes. Die halbe Hauptstadt des Libanon liegt seitdem in Trümmern.
Die verheerende Detonation war auch ein politischer Knall. Er hat einem ohnehin krisengeschüttelten Land womöglich den entscheidenden Stoß zum Umkrempeln seiner Staatsstruktur versetzt. Sein weltweit einzigartiges System, bei dem sich 18 christliche und muslimische Gruppierungen nach einem bestimmten Schlüssel die Macht im Lande teilen, ist längst gescheitert.
Der Grund: Der Libanon ist in unzählige Einflussgebiete zerfallen. In dem einen leben Griechisch-Orthodoxe oder Maroniten, in anderen Gegenden wohnen Schiiten, Sunniten oder Drusen. Die 20 verknöcherten Minister der Proporzregierung und die 128 Parlamentsabgeordneten bedienen weitgehend nur die Interessen ihrer jeweiligen Klientel. Notfalls werden die Claims der Clans mit Waffengewalt verteidigt. Folge für die Politik: kein gesamtstaatliches Denken, Misswirtschaft, Korruption, politische Intransparenz und marode Infrastruktur.
Der Staat ist längst gescheitert
Die einstige „Schweiz des Nahen Ostens", in der Geld geparkt und ein freizügiges Leben die Schickeria ganz Arabiens anlockte, ist bereits seit Jahren in ihren Grundfesten erschüttert. Die Wirtschaft ist am Boden. Die Währung ist wertlos. Die Arbeitslosigkeit ist enorm.
Dennoch haben die sechs Millionen Libanesen in den vergangenen Jahren rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem benachbarten Bürgerkriegsland Syrien aufgenommen. Das ist in Relation zur eigenen Bevölkerung mehr als jedes andere Land in der Region. Nun kam auch noch das Coronavirus hinzu. Das Land mit dem Zedern-Staatssymbol und der Größe Hessens ist am Ende, steht vor der Staatspleite.
Die Explosion von Beirut ist bis nach Europa geschallt – politisch gesehen. Selten ist ein EU-Staatschef so rasch in ein Katastrophengebiet geeilt wie Emmanuel Macron. Schon am nächsten Tag stand der Franzose verschwitzt und mit hochgekrempelten Ärmeln mitten in den Trümmern. Trotz Bodyguards kam es zu Umarmungen. Menschen riefen: „Vive la France!"
Zwei Tage nach Macron steht am selben Ort Charles Michel persönlich, der Präsident des Europäischen Rates. Kurz darauf trifft Bundesaußenminister Heiko Maas ein. Einen libanesischen Politiker von Rang hat man hingegen bis heute nicht im Trümmerfeld gesehen. „Die fürchten sich vor den eigenen Leuten", sagt ein Mitarbeiter einer deutschen Stiftung. Die herrschende Klasse sei verhasst wie nie. Die Explosion wegen vermutlich unsachgemäßer Lagerung entzündlicher Stoffe werde der Politik angelastet.
Die Polonaise der Europäer in Beirut kommt nicht von ungefähr. Gerade zur früheren Schutzmacht Frankreich gibt es dort seit der Unabhängigkeit 1943 enge Bande, insbesondere seitens der libanesischen Christen, die etwa 43 Prozent der Bevölkerung stellen. Für die Wohlhabenden unter ihnen ist Paris fast ein zweites Zuhause, das Tragen von Modelabels der Haute Couture ein Muss. Die Muslime hingegen orientieren sich eher an Großbritannien, der einstigen Verwaltungsmacht von Palästina.
Welchen Eindruck Frankreich heute noch im Libanon macht, das verdeutlicht eine weitere Szene beim Macron-Besuch. Nach einer ernsten und heftigen Unterredung mit seinem greisen Kollegen Michel Aoun (85), den Macron eindringlich an die „historische Verantwortung" der politischen Führung erinnerte, gab der erst 42 Jahre junge Mann aus Paris im libanesischen Präsidentenpalast eine Erklärung ab. „Die Spitzenpolitiker des Landes stehen hinter dem Gast aufgereiht wie Schuljungen und hören Macron zu wie bei einer Strafpredigt", notierten Korrespondenten. Nach Macron ergriff kein Libanese selbst das Wort, zu sehr waren sie geschockt von ihrem Gast, der knallhart hinter verschlossenen Türen Hilfe nur gegen Reformen zugesagt hatte.
Hisbollah als Staat im Staate
Auch Deutschland hat großes Interesse an einem stabilen Libanon. So hofft Berlin, mäßigend auf die schiitische Hisbollah-Bewegung einwirken zu können, die zwar im Libanon eine einflussreiche politische Partei ist, deren militärischen Arm die EU jedoch seit 2013 als terroristisch einstuft. Im Frühjahr hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer die „Partei Gottes" in Deutschland ganz verboten. Zahlreiche Anschläge sollen auf ihr Konto gehen.
Im Libanon ist die vom Iran unterstützte Hisbollah ein quasi unkontrollierbarer Staat im Staate und gilt als stärker als die offizielle Armee. Unter ihrem Prediger Hassan Nasrallah piesackt sie durch Raketenbeschuss das angrenzende Israel. Ihr Mann in der Regierung ist kein Geringerer als der gerade zurückgetretene Ministerpräsident Hassan Diab.
Der Drogenhandel ist ein weiterer Grund, warum Europa den Libanon stabilisieren möchte. Erst kürzlich wurden in Beirut rekordverdächtige mehr als 25 Tonnen Export-Cannabis beschlagnahmt. Der Stoff wird in großem Stile angebaut, obwohl er im Libanon selbst nicht einmal für medizinische Zwecke freigegeben ist. Vermutlich ist das eine wichtige Einnahmequelle der Hisbollah. Am Handel beteiligt sollen auch kriminelle Großfamilien mit libanesischem Hintergrund sein, die in Deutschland ihr Unwesen treiben.
Auch aus strategischer Sicht ist der Libanon für die Europäische Union von großem Wert. Ließe sie ihn fallen, fehlte ihr ein wichtiger Brückenkopf in die unruhige arabische Welt. Die Kumpelei des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit dem brutalen Regime von Baschar al-Assad im angrenzenden Syrien, das den Libanon seit Jahrzehnten zu destabilisieren versucht, braucht ein Gegengewicht.
Doch der Traum von einem geordneten Libanon wird nach Ansicht von Experten noch länger nur ein Traum bleiben. Seit Herbst 2019 gehen Zehntausende Menschen immer wieder protestierend auf die Straße, um Reformen einzufordern. Ihnen fehlen jedoch führende Köpfe und ein Programm. Die Hartleibigkeit mächtiger Beharrer lässt viele Demonstranten mittlerweile daran zweifeln, ob ihre Ziele überhaupt erreichbar sind.
Die Gelöbnisse europäische Politiker, dem Libanon zu helfen, dürfen kein leeres Versprechen bleiben, mahnen Beobachter. Die EU müsse alles daransetzen, das zerfallende Land wieder ins Lot zu bringen. Sonst werde der Zustand der zerrissenen Nation bleiben, wie er ist – ein Land zwischen Lebenslust und Todgeweihtsein.