Es muss nicht immer das Brandenburger Tor sein. Die Tourguides Reinhold Steinle und Christian Fessel zeigen ein Berlin, das selbst Berliner noch nicht kennen.
Ein Samstagnachmittag im Februar. Ein paar Leute stehen fröstelnd an der Bethlehemskirche auf dem Richardplatz in Neukölln. Ein Mann kommt und begrüßt sie. Erstaunte Gesichter: ein Schwabe! Genau, ein Schwabe erklärt den Berlinern und ihren Gästen den Bezirk Neukölln. Es ist Reinhold Steinle, inzwischen auch über die Bezirksgrenze hinaus eine lokale Berühmtheit. Während der Kieztour wird er von vielen gegrüßt. Dabei wohnt er seit 15 Jahren gar nicht mehr dort. „Es ist gut, dass ich einen räumlichen und emotionalen Abstand zu Neukölln habe. Das schärft den Blick." 1987 kam er „vom Dorf" nach Berlin und verliebte sich promt in Neukölln. Seit 2008 macht er Führungen durch mehrere Kieze und auf den Rathausturm. Er arbeitet ehrenamtlich für das Infocenter Neukölln, moderiert Stadtfeste wie das „Strohballenrollen" und spielt immer mal Theater im „Hotel Rixdorf".
Wenn er durch die Straßen läuft, findet er immer interessante Details, die ihn neugierig machen, wie schöne Fresken in einem Hausflur oder einen ungewöhnlichen Namen auf einem Straßenschild. Dann forscht er nach: in Museen und Archiven, in seiner heimischen Bibliothek. Und die Neuköllner erzählen ihm Geschichten und Anekdoten, die in seine Führungen einfließen. Die könnten glatt mehrere Stunden dauern. „Ich wähle also aus, da wird es auch für mich nicht langweilig." Von Langeweile keine Spur bei den Leuten am Richardplatz, obwohl Reinhold Steinle ihnen gerade viele Zahlen um die Ohren haut. „Schätzen Sie mal die Einwohnerzahl von Neukölln, na? Es sind 330.000, fast so viele wie in Island." Wieder Erstaunen. „Den Vergleich finde ich schöner als mit Bonn oder Bielefeld." Inzwischen ist er im Jahre 1737 angekommen. „Da gründeten die Böhmen hier ein Dorf. Die Einheimischen verstanden sie nicht, daher die Redensart von den Böhmischen Dörfern." Aha, einhelliges Nicken in der Runde. Die ist zusammengesetzt wie fast alle seine Touren. Die meisten sind aus Neukölln, Alteingesessene und Neuzugezogene, oder aus anderen Bezirken, selten Touristen. Da hätte er gerne mehr wie das Paar aus München. Es zeigte sich, dass sie eigentlich Berliner sind, zu Besuch in der alten Heimat. Neukölln ist für sie Neuland. Seit Jahren hat der Bezirk ein Negativimage, was viele Berliner von einem Besuch abhält. Für Reinhold Steinle ein Grund mehr, dagegen anzugehen. Er hat keine Berührungsängste und vermittelt das auch seinen Gästen. Das hat sich herumgesprochen, seine Touren sind gut besucht. Wer sich unter www.reinhold-steinle.de anmeldet, bekommt eine Führung, auch mal nur für eine Person.
Gegen das Negativ-Image von Neukölln
Die Gruppe hat inzwischen ein kleines weißes Haus erreicht. Reinhold Steinle stellt eine hellbraune, etwas altmodische Aktentasche mit einer roten Gerbera vor sich hin. Beides seine Markenzeichen, genau wie die rosa Hemden und die bunten Krawatten. Die „Urblume" von 2008 war orange. „Die ging aber 2009 in der Karl-Marx-Straße verloren. Diese hier habe ich seit elf Jahren." Von den Krawatten hat er inzwischen auch über 100. Einige davon ein Geschenk einer Neuköllnerin aus dem Nachlass ihres Mannes. Das weiße Haus stellte sich als ehemaliges Konsulat von Benin heraus. Erneutes Erstaunen, wer vermutet denn so was in Neukölln? Reinhold Steinle lacht, diese Reaktionen kennt er schon. Auf dem Weg durch die Straßen blättert er in einem dicken Ordner. Mit alten Stadtplänen und Zeitungen, Fotos und Postkarten erzählt er die facettenreiche Geschichte von Neukölln und kramt dazu kleine Anekdoten aus: Warum Zehntausende zur Beerdigung des langjährigen Bürgermeisters Hermann Boddin kamen oder warum die CDU im Kalten Krieg aus der Karl-Marx-Straße die Chemnitzer Straße machen wollte.
Zwei Stunden vergehen wie im Flug. Die meisten aus der Gruppe schütteln dem „Mann mit der Blume" die Hand und bedanken sich. Der hatte auf die Frage: Was soll mal über Sie gesagt werden? in einem Fragebogen der „Schwäbischen Zeitung" geantwortet: „Also seine Führungen, die hatten schon was." Dieser Wunsch ist definitiv in Erfüllung gegangen.
In der Infostation Siemensstadt sitzt Christian Fessel, der „Mann mit Hut", an einem Laptop und bastelt an seinem Programmheft. Endlich kann er wieder Touren anbieten, Workshops und Ausstellungen organisieren. Auch ihn hat Corona ausgebremst, doch nun geht es wieder los. Die erste Tour nach dem Neustart heißt „Wohnen im Welterbe".
Das ist sein Thema. „2008 wurden die sechs Siedlungen der Berliner Moderne, zu denen auch die Großsiedlung Siemensstadt im nördlichen Charlottenburg gehört, als erste Zeugnisse des sozialen Wohnungsbaus in die Unesco-Weltkulturerbeliste aufgenommen." Dafür wurde die Infostation eingerichtet, nun auch Ausgangspunkt einiger seiner Touren.
Zeitreise durch die Architektur
Christian Fessel war mit 17 Jahren das erste Mal in Berlin, um sich für eine Ausbildung zu bewerben. Die Zusage ersparte ihm den Wehrdienst. Als staatlich geprüfter Kameramann arbeitete er dann für den damaligen Sender SFB. Doch es zog ihn in die USA. Zuvor wollte er in London seine Sprachkenntnisse verfeinern, weil aber damals gerade MTV aufkam, drehte er dort Musikvideos. Ein Jahr blieb er in den Staaten, unterrichtete auch, aber so richtig gefiel es ihm nicht. Über Umwege gelangte er wieder nach Berlin und blieb. Berliner Architektur und Stadtgeschichte hatten ihn schon immer fasziniert. Später begeisterte er sich für die Historie der Londoner Untergrundbahn und organisierte in Venedig Führungen abseits der üblichen Touristenpfade. Wenn er einen Ort erforscht, will er genau wissen: Wie entstand er, warum so und nicht anders. Und – was macht ihn so besonders?
Nach dem Mauerfall zog es ihn an die „Lost Places" der nun wieder vereinten Stadt, auf die Brachen und vor allem in den Untergrund. „Das waren so irrsinnig interessante Orte, von denen ich nicht wusste, dass es sie noch gibt." In dieser Zeit widmete er sich zunehmend der Fotografie und suchte ein „für Kunden vorzeigbares Atelier". Nach zwei Jahren dann der Glücksgriff. Für die Infostation Siemensstadt wurde ein Nutzer gesucht. Ursprünglich mal als Ladengeschäft geplant, wurde sie mit dem Welterbestatus saniert und blieb lange leer. Nun hat sich Christian Fessel dort seinen „Schauraum für Fotografie" eingerichtet. Im Keller finden Ausstellungen statt, oben Vorträge, Konzerte, Lesungen und natürlich die Einführungen für seine Stadtspaziergänge.
Während der Welterbetour lädt er seine Gäste ein auf eine Zeitreise durch die Architektur von 1929 bis 1931. „Es ist 1930. Kaum Verkehr, noch mehr Grün als heute. In den Wohnungen Heizungen zum Andrehen, fließend Wasser aus der Wand, Innentoiletten. Damals wurden damit Standards gesetzt, die seitdem das Verständnis von sozialem Wohnungsbau prägen. Architekten wie Hans Scharoun, Walter Gropius, Otto Bartning oder Hugo Häring zeigten, wie man innerhalb eines Limits von Zeit und Geld ganze Siedlungen mit hohem Wohnwert bauen kann. Fachbesucher kommen aus aller Welt, um sich Inspirationen für das Bauen von Heute zu holen." Die sind besonders beeindruckt, wenn Christian Fessel sie in das original erhaltene Atelier von Hans Scharoun führt, für das er als Einziger den Schlüssel verwaltet.
Zu den Touren kommen auch Leute, die einfach neugierig auf ihre Stadt sind. Und es freut ihn, wenn nach einem Vortrag ehemalige Siemensmitarbeiter zu ihm sagen: das wusste ich ja noch gar nicht. „Das ist für mich das größte Kompliment." Zu seinem Programm gehören auch Touren nach Charlottenburg Nord. Das Gebiet gilt als sozialer Brennpunkt und steht in keinem Touristenführer, denn viele fragen sich: Gibt‘s denn da was zu sehen? Christian Fessel forschte nach und stellte fest: Na klar, und das zeigt er seinen Gästen auch. Neu im Programm ist die Industriekultur: „Die Entstehung der Siemensstadt", Touren zur Siemensbahn und den Sakralbauten. Zudem bastelt er an einem App-Tourguide „Welterbe". Auf seiner Homepage mannmithuttouren.de finden sich die Termine für die nächsten Touren. Er hofft, in Zeiten von Corona dann auch zum Tag des offenen Denkmals am 13. September Gäste zu empfangen.