Helge Schneider wird am 30. August 65 Jahre alt. Beim Geburtstagsinterview trägt er Strohhut und Strickjacke. Auf dem Smartphone spielt er Ausschnitte aus seiner neuen Platte vor, die er „Mama" getauft hat. Ein entspanntes Gespräch über Kreativität in der Corona-Krise, Singen für Deutschland und die schlimmste Zeit des Lebens.
Herr Schneider, wie sieht Ihr Alltag aus in der Zeit der Covid-19-Pandemie?
Ich habe monatelang aufgeräumt. Ich habe ein Lager aufgelöst und woanders wieder aufgebaut. Und ich habe mein Archiv durchgeguckt: VHS- und U-Matic-Bänder mit Film neben Kassetten und Tonbändern. Manchmal höre ich da rein, zum Beispiel in eine Live-Aufnahme von 1976 oder 1977. Ich hatte damals eine Band mit meinem Freund Charly Weiss: El Synder und Charly McWhite. Er hat toll Schlagzeug gespielt. Leider ist Charly vor zehn Jahren gestorben.
Können Sie sich gut allein aushalten in den eigenen vier Wänden?
Ja, ich habe immer etwas zu tun. Und zum Schluss gibt es ja immer noch das Fernsehen. Sonntags „Tatort" zum Beispiel. Meistens aber irreale Geschichten. Ich habe auch schon Drehbuchautoren kennengelernt, die mit mir arbeiten wollten, aber ich habe keine Lust, nach herkömmlichen 08/15-Mustern zu funktionieren. Zum Beispiel muss anscheinend immer ein Parallelstrang mit einer Liebesgeschichte mit rein. Wenn ich mir Krimis ansehe, dann meistens stimmungsvolle Filme wie „Fahrstuhl zum Schafott", für den Miles Davis die Musik gemacht hat.
Welcher Sound schwebte Ihnen vor, als Sie das neue Album „Mama" planten?
Ein natürlicher, warmer Sound ohne Synthesizer. Ich wollte überhaupt nichts Metallisches. Ich habe ein Klavier, das eine bestimmte Atmosphäre in die Aufnahmen bringt. Das klingt alles so direkt, als würde man daneben stehen. Beim Schlagzeugspielen mit Besen achte ich darauf, dass mir nicht langweilig wird. Der Rhythmus sollte direkt in den Körper gehen. Ich bin ja Swing-Musiker.
Sie beherrschen sämtliche Musikstile von Jazz über Rock bis hin zu Schlager. Gibt es für Sie auch „doofe" Musikstile?
Eigentlich ist Swing mein Ding. Techno kann man sich normalerweise nicht anhören, vor allem, wenn einer an der Ampel neben einem steht. Trotzdem kann ich aus Gründen des Zeitgeistes manchmal irgendetwas mit ihm anfangen. Sprich: persiflieren.
Was schätzen Sie insbesondere an Schlagermusik?
Gar nichts eigentlich, aber sie gehört speziell bei mir mit zum Erwachsenwerden. Aber ich hätte es auch als angenehm empfunden, wenn es nur Bill Haley oder Fats Domino gäbe – oder natürlich Elvis. Ich habe sein Konzert aus Hawaii live im Fernsehen in Farbe gesehen. Nachts um vier. Man kann sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen, dass es sowas mal gab.
Versuchen Sie als Songschreiber, thematisch immer mehr in die Breite zu gehen?
Ich suche mir immer sowas aus wie „Roswitha, die Striptease-Tänzerin". Das muss mit Saxofon gespielt werden. Und bei dem Stichwort „Bouillon de Paris" aus dem Song „Forever At Home" habe ich sofort an ein Akkordeon gedacht. Dann habe ich mein Scandalli-Schifferklavier herausgeholt. Das habe ich mir vor 30 Jahren für 15.000 Mark gekauft – und nie drauf gespielt. Das ist nämlich so schwer, dass man es gar nicht hochgehoben kriegt. Es steht jetzt wieder im Keller.
Haben Sie als Kind davon geträumt, zur See zu fahren?
Wie kommen Sie denn darauf? Aber in der Tat. Früher hatte ich eine Seefahrernummer im Programm, bei der ich einen unverständlichen Hamburger Dialekt gesprochen habe.
Warum nehmen Sie Ihre Alben nicht in den legendären Hansa Studios in Berlin auf, wo David Bowie und U2, aber auch Bernd Clüver und Marianne Rosenberg gewirkt haben?
Das ist für mich nicht möglich, weil ich das ganz alleine machen muss. Das ist so intim, da kann nicht noch einer hinter der Glaswand sitzen, den ich nicht so gut kenne wie mich selbst. Außerdem habe ich unheimlich viel Spaß an der Technik hier bei mir. Das gibt es ja kaum noch. Die Bandmaschinen zum Beispiel sind noch voll funktionsfähig. Eine stammt vom WDR und eine von den Bavaria Filmstudios in München. Und eine dritte stammt noch von Giuseppe Verdi, eine Wachsrollenaufzeichnungsmaschine von der Firma Osram.
Denken Sie zuweilen: Die Stille ist eigentlich sehr schön, ich will gar nicht mehr auf Tour gehen?
Das wäre schön für eine gewisse Zeit. Aber wie gesagt: In zwölf Monaten ist mein Geld alle. Und wenn ich dann nicht auf Tournee gehen kann, muss ich wieder arbeiten: als Zahnarzt, Paketzusteller oder Pferdeschmied.
Wollen Sie die Menschen mit Ihren Liedern „verführen?
Ich weiß nicht, ob Musik die Welt verändern kann oder auch sollte, aber es ist so. Ich strebe das nicht an, ich möchte einfach nur in meinem Umfeld positiv sein. Das ist aber nur ein Gefühl. Genauso wie Musik, die zur Gefühlswelt der Menschen gehört. Sie hat einen großen Anteil an dem Stimmungsbild, das die Menschheit abgibt.
„Ich will nicht funktionieren, ich will kreativ sein", heißt es in Ihrer Autobiografie. Ein Leitsatz?
Ja – und er gilt immer noch.
Als Kind hörten Sie immer heimlich Radio. Später haben Sie Ihren Eltern ohne rot zu werden von der Schule erzählt, obwohl Sie da gar nicht mehr hingegangen sind. Was haben Sie in der Zeit getan?
Ich bin jeden Morgen an der Ruhr spazieren gegangen. Von hier bis Kettwig – das sind acht Kilometer – und wieder zurück. Ich habe dabei im Kopf Klavier geübt und gesungen. Damit habe ich mit 14 angefangen. Ich bin auch nach Essen gelaufen und mit der Straßenbahn schwarzgefahren. Ich bin oft erwischt und zu 90 Sozialstunden verdonnert worden. Ich musste in einem Jugendheim den Fotokeller aufräumen. Seitdem mache ich meine Bilder und Plakate selber. Jetzt habe ich auch eine digitale Kamera.
Warum war die Zeit als Säugling eigentlich Ihre schlimmste Zeit?
Ich habe daran nur fragmentarische Erinnerungen, zum Beispiel, wie ich im Kinderwagen lag und die Leute immer dachten, ich sei ein Mädchen. Im Kinderbett hatte ich mir mal den Kopf zwischen den Gittern eingequetscht. Später bin ich immer vom Schlafzimmerschrank aufs Bett meiner Eltern gesprungen. Als Mutter und Vater einmal in die Oper gehen wollten und ich bei einer Nachbarin bleiben sollte, habe ich so geschrien, dass sie zu Hause blieben. Da war ich etwa ein Jahr alt. Wir hatten einen Kohleofen. Es war alles unheimlich klein.
Ihre Tante lebte mit bei Ihnen?
Tante Erna hatte das Zimmer mit dem Telefon. Wir Kinder konnten da nicht dran. Mein Vater war aber auch sehr klein. Einmal haben sie ihn mit vier Mann nach Hause getragen, weil er so besoffen war. Er ging sonntags immer zum Frühschoppen. Ab dann durfte er das nicht mehr.
Wie musikalisch war die Familie Schneider?
Meine Mutter hat Gitarre gespielt. Mein Vater war ein Witzemacher und sagte immer, er könne nur Radio. Nach der Taufe meiner kleinen Schwester ging er nie mehr in eine Kirche hinein, weil die Bänke so unbequem sind. Er war ein ganz cooler Typ.
Wollten Sie selbst Vater werden?
Da denkt man doch mit 26 Jahren noch nicht dran. Ich wollte immer nur Musik machen. Ich hatte 1.000 Jobs und habe mal hier, mal da gespielt. Dann kamen plötzlich drei Kinder auf einmal. Die Mutter ist eine ziemlich taffe Frau, die sehr viel übernommen hat, weil ich öfter auf Tournee war.
Sind Ihre Kinder genauso rebellisch wie Sie selbst?
Klar. Spätestens in der Pubertät fangen sie an, sich irgendwie von den Eltern zu entfernen und sich für ihren lustigen Vater eine Zeit lang zu schämen. Schlimm finde ich für die Kinder, dass eine Gesellschaft ohne Handy anscheinend nicht mehr funktionieren kann. Gerade jetzt durch Homeschooling merkt man, dass das Internet einen großen Anteil im Leben einnimmt. Meine Enkeltochter macht zum Beispiel ihre gesamten Hausaufgaben am Handy.
Wie hat Ihr kleinbürgerliches Elternhaus Sie geprägt?
Auf der einen Seite bin ich sehr ordnungsliebend und kann in einem kleinen Rahmen leben. Andererseits mache ich genau das Gegenteil: Ich habe 60 Gitarren, fünf Flügel, Kontrabässe, alte Autos und Motorräder. Meine kleinbürgerliche Herkunft hält mich aber auf dem Teppich. Ich versuche zum Beispiel, keine Schulden zu haben. Und Kinder kosten ja auch Geld.
Sie werden mitten in der Corona-Krise 65 – und können wahrscheinlich keine große Party feiern. Finden Sie das traurig?
Nach der Party an meinem 50. Geburtstag habe ich vier Tage lang aufgeräumt. Das mache ich erst wieder, wenn ich 100 werde. Könnte sein, dass meine Kinder alle zu mir kommen, aber vielleicht ist das ja wegen Corona gar nicht möglich.
Überprüft man sein Leben in so einer Ruhephase?
Naja, letztes Jahr habe ich in Spanien in einem Krankenhaus gelernt, mit ziemlich extremen Situationen umzugehen. Seitdem bin ich viel ausgeglichener. Jetzt geht es mir wieder gut.
Auch auf der Bühne?
Ja, auch. Neulich haben mich fünf junge Radfahrer angepöbelt, da habe ich dem einen hinterhergerufen: „Schneid dir mal ordentlich die Haare!" Worauf er sich umdrehte, zu mir zurückkommen und mich verprügeln wollte. Ich jedoch habe meine Arme wie Muhammad Ali lässig herunterbaumeln lassen. Ich fahre selbst mal Fahrrad, aber ich gebe Fußgängern, Hunden und Vögeln immer Vorrecht.