Mit seinem Weltrekord über 5.000 Meter ist Joshua Cheptegei endgültig ins Rampenlicht der Leichtathletik gelaufen. Das Talent ist riesig, doch auch die Zweifel sind nicht gerade klein.
Jetzt, wo Joshua Cheptegei ganz oben angekommen ist, sieht er den 26. März 2017 mit anderen Augen. Schon an jenem Tag hatte er der Leichtathletik-Welt beweisen wollen, was für ein Ausnahmeläufer er ist. Doch was als großer Triumphlauf in seinem Heimatland Uganda geplant war, endete in einer Tragödie. Cheptegei war bei den Crosslauf-Weltmeisterschaften in der Hauptstadt Kampala über zehn Kilometer als größter Hoffnungsträger Ugandas gestartet. Und lange Zeit sah es so aus, als ob der damals 20-Jährige die Erwartungen auch erfüllen sollte. Cheptegei riss eine Lücke von zwölf Sekunden auf seine Verfolger, eine Runde vor Schluss jubelten die Fans schon über den fast sicheren Sieg. Doch dann brach Cheptegei komplett ein. Der junge Mann wurde erst merklich langsamer, dann begann er bedenklich zu torkeln. Wie ein Betrunkener, der sich auf die Bahn verirrt hatte. Die Hitze, die hohe Luftfeuchtigkeit und wohl auch sein hohes Anfangstempo forderten ihren Tribut. Völlig entkräftet torkelte Cheptegei als 30. mit einem Rückstand von fast zwei Minuten ins Ziel. „Ich habe ein paar Wochen gebraucht, um das zu verkraften", erzählte Cheptegei einmal. „Ich bin nur zu Hause geblieben, war nicht draußen. Ich wollte keine Menschen treffen." Sie hätten ihn ansonsten nur mitleidig darauf angesprochen, „und dann hätte ich mich schlecht gefühlt, weil ich daran erinnert werden würde, was passiert ist".
Dreieinhalb Jahre später kann man sagen: Es hat Cheptegei nicht gestoppt, vielleicht hat es ihn sogar nur noch stärker gemacht. So stark, dass er nun als neuer „Wunderläufer" in der Leichtathletik weltweit gefeiert wird. Beim ersten großen Meeting nach der Corona-Pause pulverisierte der Mann aus Uganda über 5.000 Meter den 16 Jahre alten Weltrekord des großen Kenenisa Bekele um satte zwei Sekunden. Auf der Anzeigetafel des Stadions in Monaco stand die neue Bestmarke 12:35,36 Minuten geschrieben – und doch konnte es kaum jemand glauben. Cheptegei selbst gab zu, es sei wegen der Corona-Pause „eine große mentale Herausforderung gewesen, in diesem Jahr motiviert zu bleiben". Geschafft habe er es durch „die richtigen Leute um mich herum", die ihn „immer wieder angetrieben" hätten. Vom Trainingsalltag habe er sich in der afrikanischen Heimat abgelenkt, indem er mal eine Grundschule neu gestrichen oder mal seinem Vater bei der Feldarbeit geholfen habe.
Doch vor allem hat er während der Pause hart trainiert. In seinem Distrikt Kapchorwa an der Grenze zu Kenia konnte er nach den Lockerungen auf einer Höhe von 1.800 Metern laufen, ein paar Trainingspartner sorgten für zusätzliche Motivation. Aber reicht das als Erklärung? Bei einer solchen Zeit, die einen Temposchritt von 23,8 Stundenkilometern voraussetzt, kommen Zweifel auf. Zumal es in eine Zeit fällt, in der das weltweite Doping-Kontrollsystem nur rudimentär funktioniert.
Temposchritt von 23,8 km/h
Man muss Cheptegei zugutehalten, dass sein Fabellauf nicht aus dem Nichts kam. Seit Jahren ist er konstant weltklasse. 2019 wurde er in Doha Weltmeister über die 10.000 Meter, und er gewann auch bei der Crosslauf-WM Gold. Auch bei seinem letzten Rennen vor der Corona-Pause am 16. Februar in Monaco setzte er mit dem Weltrekord im Fünf-Kilometer-Straßenlauf (12:51 Minuten) ein Ausrufezeichen.
An selber Stelle sorgte er beim Comeback nun für den ganz großen Knall. Den Weltrekord ausgerechnet in Monaco beim Diamond-League-Event zu laufen, war kein Zufall. „Ich wusste, dass Monaco einer dieser besonderen Orte ist, wo ich den Weltrekord brechen kann", sagte Cheptegei. Auch sein Trainingspartner im gemeinsamen „NN Running Team", der kenianische Marathon-Olympiasieger und Weltrekordhalter Eliud Kipchoge, wusste genau, zu welchen Großtaten Cheptegei fähig ist. „Sein Laufstil", sagte Kipchoge bewundernd, „ist Poesie als Bewegung."
Tatsächlich mutet der Laufstil des neuen Weltrekordhalters höchst ästhetisch an, die Anstrengung der Strapazen sind ihm kaum anzusehen. Cheptegei, der normalerweise seinen Trainingsschwerpunkt in den Niederlanden hat und dort von Coach Addy Ruiter betreut wird, hat unbestritten ein riesiges Talent fürs Laufen. Und für das Duell Mann gegen Mann. „Ich habe die Wettkämpfe wirklich vermisst. Es ist etwas, was ich liebe, es liegt mir im Blut", sagte Cheptegei. Am liebsten misst er sich mit Kenianern und Äthiopiern, die jahrzehntelang die Langstrecken beherrscht haben. Doch dort ist nun ein Mann aus Uganda der neue König – und er will es noch lange bleiben. „Mein Ziel ist es, die Bahn in den nächsten fünf bis sechs Jahren zu dominieren", sagte der 23-Jährige selbstbewusst.
Zum Inspektor bei der Polizei aufgestiegen
Sein kurzfristiges Ziel ist der Weltrekord über 10.000 Meter, den ebenfalls Bekele hält (26:17,53 Minuten). Doch Cheptegei will noch mehr, er will der größte Läufer aller Zeiten werden. „Ich möchte meinen Sport so verändern", sagte er, „wie es Michael Jordan und Cristiano Ronaldo in ihrem Sport geschafft haben." Dies hatten nicht wenige auch Bekele zugetraut, doch an dem bereits 38 Jahre alten Äthiopier ist nun ein deutlich jüngerer Konkurrent vorbeigezogen. Bekeles Traum, zeitgleich alle Weltrekorde über 5.000 und 10.000 Meter sowie im Marathon zu halten, ist wohl für immer geplatzt. Cheptegei gehört die Zukunft im Langstreckenlauf, da sind sich fast alle Experten einig. Dabei wäre er beinahe beim Fußball gelandet, als kleiner Junge galt seine Leidenschaft dem runden Leder. Bei einem Schulrennen fiel er aber Benjamin Njia auf, einem Leichtathletik-Coach in Uganda. „Als ich ihn laufen sah, erkannte ich sein Talent. Ich habe ihn gedrängt, sich auf die Leichtathletik zu konzentrieren", sagte Njia. Cheptegei folgte dem Rat und begann 2004 mit dem Volltraining. Zehn Jahre später gewann er Gold über 10.000 Meter bei der Junioren-WM in Eugene. Von da an ging es fast nur noch bergauf – nicht nur auf der Bahn. Die Polizei von Uganda wählte Cheptegei aus, um bei ihnen eine Karriere zu starten. Inzwischen ist er dort dank seiner Fähigkeiten zum Inspektor aufgestiegen. Und das auch in Rekordzeit, versteht sich. Cheptegei studierte auch an der Bugema University zwei Jahre auf Bachelor in den Hauptfächern Sprachen und Literatur. Doch in seiner Lebensgeschichte versteckt sich noch mehr Interessantes. Er unterstützt Kampagnen und Projekte, die sich gegen die noch immer praktizierten Genitalverstümmelungen von Mädchen in seiner Heimat richten. „Sie kommen vor, und ich sollte darüber sprechen", sagt der Leichtathletik-Star.
Cheptegei ist eine in vielerlei Hinsicht interessante Person, doch sein größtes Talent liegt eindeutig auf der Bahn. Sein graziler Laufstil, seine kraftvollen Antritte, seine schier unerschöpfliche Ausdauer, sein unbändiger Wille – all das macht ihn zum neuen Superstar der Langstrecke. Und wahrscheinlich war auch die Tragödie an jenem 26. März 2017 ein Schlüssel für den Aufstieg.