Der Potsdamer Nikolaisaal feiert seinen 20. Geburtstag. Das Coronavirus stellt auch den „Niko" vor ungeahnte künstlerische und betriebswirtschaftliche Herausforderungen.
Potsdams Konzertsaal, erbaut vom renommierten Architekten Rudy Ricciotti, wird 20 Jahre alt. Seit der Eröffnung am 27. August 2000 fanden sich hier rund zwei Millionen Besucher ein. Nicht nur Potsdamer, sondern auch viele Berliner und Brandenburger haben den „Niko" fest im Blick, wenn es um gute Konzerte geht. Inzwischen werden sogar Stimmen laut, dass der Saal für das an Einwohnern stetig wachsende Potsdam zu klein geplant sei.
In dem hell und modern gestalteten Saal gibt es 725 Konzertsessel, in denen man ausgesprochen bequem sitzt. Schallschluckende Blasen an den Wänden und die wellenförmige Decke sorgen für gute Akustik. Kleinere Veranstaltungen finden im Foyer statt, das sich für maximal 200 Besucher flexibel umbauen lässt.
Komplett wurde das kulturelle Ensemble, als man vor ein paar Jahren im Vorderhaus, hinter barocker Fassade, das entzückende kleine „Café Ricciotti" eröffnete. Hier finden auch die Baby-Konzerte statt. Die Betreiber von „Fine Dine Catering" besorgen zudem den Ausschank bei den Konzertveranstaltungen.
Sinfonie und Kammermusik, Jazz oder Pop – all das ist im Nikolaisaal in verschiedenen Konzertreihen untergebracht, aufgeführt von regionalen ebenso wie von international aktiven Künstlern. Dass die Stadt Potsdam als Geldgeber den kulturellen Bildungsauftrag festgeschrieben hat, spiegelt sich in einem mannigfaltigen Education-Programm, das von besagten Baby-Konzerten bis zu Projekten mit Schwerhörigen reicht. Gleichwohl schafft es der Nikolaisaal, 30 Prozent seines Etats als Eigenanteil durch Tickets und Vermietung zu erwirtschaften.
Seine Vorgeschichte reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Zunächst befand sich auf dem Grundstück eine Manufaktur mit Zugang zum Stadtkanal. 1777 entstand hier ein prächtiges barockes Wohnhaus. 1904 kaufte die Gemeinde der nahe gelegenen Nikolaikirche das Grundstück an der damaligen Hoditzstraße, benannt nach dem Grafen Albert Joseph von Hoditz, der hier im 18. Jahrhundert lebte. Bis 1909 entstand ein neuer Gemeindesaal, der in den frühen 30ern erweitert wurde und eine Orgel erhielt. In den letzten Kriegswochen wurde das Gebäude jedoch bei einem Luftangriff beschädigt.
Doch bereits 1946 – die Hoditzstraße heißt seither nach dem sozialistischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Staab – war der Saal wieder in Betrieb: als „Großer Sendesaal" des Landessenders Potsdam. In diesem Zentrum des Potsdamer Musiklebens gastierten prominente Künstler wie der Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, der Pianist Wilhelm Kempff oder die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler. Der schlechte bauliche Zustand ließ jedoch ab 1958 keine Konzerte mehr zu.
Noch in den letzten DDR-Jahren nahm man einen Umbau ins Visier. Nach der Wende wurde dann der französische Architekt Rudy Riciotti mit einem Neubau beauftragt, der eine Synthese zwischen Alt und Neu bilden sollte. Neu ist nur der eigentliche Konzertsaal. Die historische Bausubstanz blieb erhalten, sodass nun jeder Konzertgang eine kleine Zeitreise darstellt: Der Besucher tritt durch das barocke Vorderhaus in den Innenhof. Das Säulenportal aus den 30er-Jahren führt in den alten Saal, der nun das Foyer beherbergt. Dahinter schließt sich der moderne Konzertsaal an.
Wie ein Schildbürgerstreich mutet es an, dass die Stadt Potsdam in den 90er-Jahren gleichzeitig einen neuen Konzertsaal plante und ihr städtisches Orchester, die Brandenburgische Philharmonie, abwickelte. Stattdessen entstand 2001 die Kammerakademie Potsdam als preiswerteres Konstrukt eines Kammerorchesters in freier Trägerschaft. Dafür wurden das Potsdamer Persius-Ensemble und das Berliner Ensemble Oriol fusioniert.
Die Musiker der Kammerakademie Potsdam treten seither regelmäßig, jahraus, jahrein, als Hausorchester des Nikolaisaals auf. Trotzdem gelten sie als Freiberufler und werden nur auf Projektbasis bezahlt. Die Hälfte seines Etats muss das Ensemble selbst erwirtschaften.
In der Corona-Krise läuft dieses Modell nun endgültig aus den Fugen, bleiben doch die Einnahmen aus den Kartenverkäufen seit Mitte März aus. Weder Ausfallhonorare noch Kurzarbeitergeld kommen für die formal Solo-Selbstständigen Künstler infrage.
„Moderne Tradition" ist das Motto der Saison
Mit der Gründung des Nikolaisaals übernahm Andrea Palent die Geschäftsführung. Die aus Halle stammende Musikwissenschaftlerin leitete die Geschicke des Hauses 19 Jahre lang, wobei sie stets auf künstlerische und konzeptionelle Qualität pochte. Seit 2019 gibt es ein neues Leitungsduo: Michael Dühn als Programmdirektor, zuvor Orchestermanager bei den Dortmunder Philharmonikern, und Heike Bohmann als kaufmännische Geschäftsführerin. Angesichts des beständig zufriedenen Publikums und der hohen Auslastung können die beiden nicht viel falsch machen, wenn sie die bewährte Programmstruktur beibehalten.
In der Jubiläumssaison 2020/21 setzen Dühn und sein Team drei inhaltliche Schwerpunkte: Das Thema „Paradies" zieht sich wie ein roter Faden durch unterschiedliche Konzertformate – bis hin zur Filmmusik-Gala „Jenseits von Eden" Ende Mai. Zweitens gibt es die neue Konzertreihe „Fokus: Kontrabass", bei der renommierte Künstler wie das Ensemble Bassiona Amorosa oder der schwedische Jazzmusiker Lars Danielsson auftreten. Drittens wird die Improvisation zum Schwerpunktthema erhoben und vor allem im Bereich der Hörvermittlung ausgelotet. Neun interaktive Workshops erkunden die Vielfalt der Improvisation in Barock und Jazz, Folk oder Rap.
Das Coronavirus stellt auch den Nikolaisaal vor ungeahnte künstlerische und betriebswirtschaftliche Herausforderungen. Die kaufmännische Leiterin Heike Bohmann rechnet damit, in diesem Jahr nur die Hälfte des angestrebten Umsatzes zu machen. Immerhin wurde der Landeszuschuss während des Lockdowns nicht gekürzt. Viele Produktionen konnten verschoben werden, sodass Bohmann hofft, letzten Endes noch glimpflich davonzukommen. Bis auf Weiteres stehen lediglich 140 Sitzplätze zur Verfügung. Einige Konzerte finden daher doppelt statt. Größere Veranstaltungen sollen in die Sporthalle am Potsdamer Luftschiffhafen verlegt werden.
Als „Niko"-Hausorchester spielt die Kammerakademie Potsdam in der anstehenden Saison unter dem Motto „moderne Tradition". In ihren Konzertprogrammen fragen die Musiker und ihr Chefdirigent Antonello Manacorda, was in einer Zeit der Veränderung Bestand hat, wie sich die Spannung zwischen Tradition und Moderne gestaltet. „Während der Begriff ‚modern‘ vordergründig frisch und hip klingt, und ‚Tradition‘ eher verstaubt anmutet, könnte man es auch genau andersrum sehen", erklärt Alexander Hollensteiner, Geschäftsführer der Kammerakademie. „Denn alles, was modern ist, wirkt morgen schon wieder veraltet. Tradition ist aber etwas, das sich über die Jahre durchgesetzt hat – sie hat sich bewährt."
Als Beispiel nennt Hollensteiner Beethovens „Eroica", eine heute allseits beliebte und bewunderte Sinfonie. Bei der Uraufführung vor rund 200 Jahren spaltete sie jedoch das Publikum in Verehrer und Verächter. Viel mehr applaudierten die Zeitgenossen der Es-Dur-Sinfonie eines gewissen Anton Eberl, die am selben Abend uraufgeführt wurde. Eberls heute vergessenes Werk stellt die Kammerakademie am 24. November vor.
„Oft wird vergessen, dass die heutigen Klassiker einst heftig umstrittene zeitgenössische Musik waren", stellt Hollensteiner fest. „Auch Beethoven musste sich auf vernichtende Kritik einstellen, wenn er den Ohren zu viel Neues zumutete." Das Saisonthema „Moderne Tradition" führt mitten hinein in dieses Spannungsfeld zwischen bahnbrechend Neuem und vermeintlich Vertrautem. Das Programm der Kammerakademie umfasst dabei Musik des 17. bis 20. Jahrhunderts. Weiterhin führt die Kammerakademie ihre Tradition fort, einen „Artist in Residence" zu engagieren.
Als Musiker, der während des Konzertjahres immer wieder mit dem Ensemble auftritt, ist in der Saison 2020/21 Jörg Widmann zu erleben. Er präsentiert sich mit der Kammerakademie in drei Rollen: als Komponist, Klarinettist und Dirigent.