Die Deutsche Märchenstraße ist nicht nur für die Kleinen interessant. Vom Gebrüder-Grimm-Geburtsort Hanau führt die Route rund 600 Kilometer bis nach Bremen und entführt ins Sagen- und Märchenreich.
Nimm’ mich mit in dein Bettlein", quakt der garstige Frosch. Dass er geküsst wird, ist der wohl größte Irrtum in der Grimmschen Märchengeschichte. Denn erlöst wird der Froschkönig, weil ihn die Prinzessin gegen die Wand wirft. Aber wie kommt man den beiden Brüdern und den Kinder- und Hausmärchen auf die Schliche? Was haben sie nur gesammelt, was haben sie dazugedichtet?
Alles Märchen, denkt man und macht sich selbst auf den Weg. Heute muss niemand Kröten herzen, vom bösen Wolf gefressen oder von der neidischen Königin vergiftet werden, um sich verzaubert zu fühlen. Man muss sich nicht einmal im dunklen Wald verlaufen, um diesen Geschichten auf die Spur zu kommen. Auf der Deutschen Märchenstraße erfährt man Details aus dem Leben der Brüder und über ihre Hauptfiguren aus dem Sagen- und Märchenreich. Die Strecke mit rund 50 Stationen führt über gut 600 Kilometer von Hanau bis nach Bremen.
Hanau ist die Geburtsstadt von Jacob (1785–1863) und Wilhelm (1786–1859) Grimm. Sie schmückt sich mit den beiden Superstars aus der Märchen- und Germanistenszene, obwohl sich ihr Leben heute nur noch anhand von Gedenktafeln nachvollziehen lässt, da die Stadt im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Allein das Nationaldenkmal der Brüder Grimm, das seit 1896 vor dem Neustädter Rathaus steht, blieb verschont.
Nachdenklich blicken die beiden lebensgroßen Bronzefiguren vom Sockel, als wollten sie sagen: Die Zeit wird nie so alt, als dass das Wünschen und Träumen nicht mehr helfen würde. Im englischen Landschaftsgarten von Schloss Philippsruhe kann man gleich damit anfangen. Im Sommer 2021 kommen im dortigen Amphitheater wieder die Märchenfestspiele zur Aufführung.
Nur 50 Kilometer entfernt wuchsen die Geschwister im Fachwerkstädtchen Steinau an der Straße auf, das offiziell den Titel Brüder-Grimm-Stadt führt. Zwischen der Katharinenkirche, in der der Großvater Pfarrer war, und dem mächtigen Renaissanceschloss steht der Märchenbrunnen. Der magische Platz ist gleichzeitig der Wirkungskreis des Großen Zauberers aus „Der gestiefelte Kater". „Ich tische gern Märchen auf", sagt Stadtführer Günther Mirsch lachend und tippt auf die lange Nase seiner Maske. Er und seine Kollegen tragen Kostüme aus „König Drosselbart", „Frau Holle" und „Schneewittchen", wenn sie ihre Gäste zu fünf historischen Stationen bringen, die im Leben der Grimms eine Rolle spielten. Dazu zählt auch das mit Schmuckfachwerk verzierte Wohn- und Amtshaus von Vater Philipp Wilhelm, das heutige Brüder-Grimm-Haus. In zehn Räumen macht die moderne Ausstellung Leben, Werk und Wirken der Familie Grimm auf sinnliche Art erlebbar.
Stadtführer als König Drosselbart oder Schneewittchen
Selten trifft das Wort „malerisch" – oder vielleicht sogar „märchenhaft" – eher zu als auf Marburg. Eng stehen hier die Fachwerkhäuser in Gängen und Gassen, Menschen laufen treppauf, treppab, und von überall sieht man das Landgrafenschloss. Die Altstadt erscheint so herrlich historisch, dass die beiden Brüder jeden Moment um die Ecke biegen könnten. Sie kamen an die Lahn, um an der renommierten Universität Jura zu studieren.
Ihren Spuren folgt man hier auf dem „Grimm-Dich-Pfad", um an künstlerisch gestalteten Symbolen auf Häusern, Mauern und Treppen zehn dazu passende Märchen zu erraten. Aus der alten Stadtmauer ragen die Skulpturen vom Wolf und den sieben Geißlein, über dem Neustadt-Brunnen hockt der Froschkönig. Seit Neuestem schwimmt der Butt aus „Von dem Fischer un syner Fru" im Teich des Alten Botanischen Garten am Pilgrimstein. Im Schlossbrunnen schimmert „Das blaue Licht", an der Universitätskirche leuchtet der Sterntaler als Lichtkunst-Installation, und am Markt sucht man die Fliegen vom tapferen Schneiderlein. Den Torbogen der Neuen Kanzlei garnieren noch sieben Zwergenmützen, und im Weinberg unter dem Schloss leuchtet ein roter Aschenputtelschuh, der so groß ist, dass er wahrscheinlich jeder Braut passt.
Erst von Kassel aus eroberten Grimms Märchen die Welt. Gut 30 Jahre lebten Jacob und Wilhelm in der späteren Documenta-Stadt, studierten, spazierten und philosophierten im Bergpark des Schlosses Wilhelmshöhe. In der Kunst- und Kulturstadt entstanden ihre wichtigsten Werke, auch die „Kinder- und Hausmärchen", für die sie Geschichten aus mündlichen und schriftlichen Quellen sammelten. Die Erstausgabe kam am 20. Dezember 1812 heraus. Das Handexemplar mit Notizen und Kommentaren gehört seit 2005 zum Unesco-Dokumentenerbe und ist im interaktiven Ausstellungshaus Grimmwelt Kassel zu sehen. Das Brüder-Grimm-Denkmal nahe der ehemaligen Wohnung ist indes nur däumlingsgroß ausgefallen. In der „Conditorei Nenninger" gegenüber kann man bei einem Stück Grimm-Torte über die „Märchenonkel" sinnieren: Ihre Märchen sind weltberühmt, in rund 160 Sprachen übersetzt und millionenfach gedruckt. Doch als Germanisten, Sprachforscher und liberale Intellektuelle sind sie fast vergessen.
Erstausgabe im Dezember 1812
Die Fachwerkstadt Hannoversch Münden liegt zauberhaft am Zusammenfluss von Weser, Werra und Fulda. Erhaltung statt Abriss entschieden die Stadtväter in den 1950er-Jahren und sanierten das architektonische Erbe von rund 700 Gebäuden in der Altstadt. Das prächtige Renaissance-Rathaus wird am Samstag zur wöchentlichen Sprechstunde des Wundarztes richtig voll. „Ich bin der Doktor Eisenbart, kurier die Leut’ nach meiner Art", ruft der goldberockte Mann mit Lockenperücke und führt seine Werkzeuge vor: Lupe, Zange und Narkosehammer. Vom Operateur, Starstecher und Knochenflicker, der 1727 hier starb, ist bei den Grimms nichts zu lesen. Doch die Legende lebt, und die Stadt hat den Barockarzt zur Leitfigur erkoren und sich mit der Legende um seine rätselhaften Heilerfolge einen festen Platz auf der Märchenroute gesichert. Auf der Bühne werden launige Sketche über das Wirken des oft verunglimpften Medikus vorgetragen. Als Wanderarzt soll er mit Gauklern und Artisten von Markt zu Markt gezogen sein, Arzneien selbst hergestellt und das kurfürstliche Recht zu behandeln besessen haben. Eine Statue über dem Sterbehaus sowie die Grabstätte an der Aegidi-Kirche erinnern an ihn. Schlag zwölf öffnen sich im Rathausgiebel zwei Türchen und ein Glockenspiel mit Figuren zeigt den legendären Arzt bei der Arbeit.
Unendlich lange erscheint die Fahrt durch den sagenhaft dichten dunklen Reinhardswald, dem größten zusammenhängenden Waldgebiet Hessens, der wie im tiefen Zauberschlaf daliegt. Auf dem Hügel steht die Sababurg, die durchaus das „schlafende" Schloss aus Dornröschen sein könnte. In den 1950er-Jahren wurde die Burgruine zu neuem Leben erweckt. Eine Dornenhecke rankt den hohen Schlossturm hoch. Rosen blühen überall, auch im Burggarten, wo elf Stahlschnitte des Künstlers Alfons Holtgreve bei einem Märchenrundgang zu sehen sind. In der Küche flackert normalerweise immer ein Feuer und der Koch bringt kulinarische Spezialitäten. Der Hofstaat mag sonst schläfrig sein. Im Moment hat er wegen der umfassenden Renovierung des Schlosses alle Hände voll zu tun, sodass derzeit nur die Außenanlagen zu besichtigen sind. Dornröschen und der Prinz halten trotzdem bald wieder sonntags um 14 Uhr ihre Märchen-Audienz.
Burgruine wurde zum Leben erweckt
Tauben haben in Polle an der Weser viel zu tun. „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen …" heißt es im Aschenputtelzimmer der Tourist-Info, wo die Vögel beim Auslesen der Erbsen und Linsen helfen. Eigentlich gehört der Flecken in Niedersachsen ins Sagenreich des Münchhausenlandes. Doch obwohl der adlige Lügenbaron noch 74-jährig eine Dame aus Polle geheiratet haben soll, hat sich die Gemeinde der Cinderella verschrieben. In der mittelalterlichen Burgruine der Grafen von Everstein spielt die örtliche Laienspielgruppe das Märchen, in dem der blaublütige Verehrer Fuß und Herz des braven Mädchens gewinnt. Auf dem Aschenputtelweg rund um die Burg sind der Herd, das Taubenhaus und Aschenputtels goldener Schuh zu entdecken.
Im Herzen der Weserstadt Hameln hört man ihn schon, den Rattenfänger mit seinem heiteren Flötenspiel. Als die Stadt vor langer Zeit unter einer Rattenplage litt, wurde der Mann mit dem Federhut von den Ratsherren zu Hilfe gerufen. Doch weil sie ihn um seinen Lohn prellten, griff er erneut zur Silberflöte und verschwand mit allen Kindern der Stadt. „Man muss halten, was man verspricht", sagt Michael Boyer, der Profidarsteller für große und kleine Gäste. Im Fachwerk des alten Rattenfängerhauses belegt ein geschnitztes Spruchband, was sich anno 1284 zugetragen haben soll. „Es gibt 56 Theorien zu den historisch verbrieften Ereignissen", weiß Boyer. Er selbst halte sich aber an die Version der Brüder Grimm.
Begehbares mechanisches Rattenfänger-Theater
Zwischen dem alten und dem neuen Rattenfängerbrunnen führt Boyer Besucher zu mittelalterlichen Häusern und schließlich zum Museum Hameln, das sich mit Geheimnis und Magie des Rattenkults um den Auszug der Kinder wissenschaftlich und spielerisch auseinandersetzt. Ein Höhepunkt ist das begehbare mechanische Rattenfänger-Theater, das die Sage in eine künstlerische Installation mit moderner Ästhetik übersetzt und nacherlebbar macht.
Bremen ist das pulsierende Zentrum Nordwestdeutschlands, eine Großstadt mit vielen Facetten. Hierher zogen einmal Esel, Hund, Katze und Hahn – vier Tiere, die angeblich zu alt und zu nichts mehr nutze waren. Als ihre Herren sie töten wollen, fliehen sie. „Stadtluft macht frei" heißt es in der Freien Hansestadt an der Weser, in der die vier auf ihrer Suche nach Glück, Frieden und Gerechtigkeit eine Heimat fanden. Denn nur wer mutig auszieht, so die Brüder Grimm, kann auch ankommen und belohnt werden. Deshalb begegnet man den Stadtmusikanten in der alten Handelsstadt auf Schritt und Tritt. Das wohl bekannteste Denkmal der Vierertruppe steht seit 1953 an der Westseite des Bremer Rathauses, ein Werk des Künstlers Reinhard Marcks. Aber auch im Handwerkerhof der Böttcherstraße und im Altstadtviertel Schnoor kann man ihnen immer noch begegnen. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.