Eine krude Melange aus Esoterikern und Verschwörungstheoretikern, bürgerlichen Demonstranten und Reichsbürgern will die Demokratie retten – auch mit Methoden, die Zweifel am Demokratieverständnis aufkommen lassen.
Für Veranstalter Michael Ballweg hätte dieser Samstag nicht besser laufen können. Er und sein Team haben tatsächlich die Querdenken-711-Demo bis zum Ende im wahrsten Sinne des Wortes über die Bühne bekommen. Gegen 19 Uhr nach dieser Veranstaltung steht Ballweg in der Abendsonne am Rand der großen Bühne vor der Siegessäule und träumt vom nächsten politischen Aufschlag in der Bundeshauptstadt: ein erster öffentlicher „Verfassungskonvent".
Indirekt wird sich Ballweg bei Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) bedanken können. Der hatte vier Tage vor der großen Demonstration recht unbeholfen versucht, diese zu verbieten. Was zu einem echten Rohrkrepierer wurde. Sowohl das Verwaltungsgericht, als auch das Oberverwaltungsgericht hoben das Verbot wieder auf. Für die Macher von Querdenken ein wahres Geschenk. Denn wenn man regierungskritischen Bürgern das Demonstrieren verbieten will, dann kommen sie erst recht. Die zweite Groß-Demo gegen Hygienekonzepte, Maskenschutz und Corona als solches wurde wegen der Teilnehmerzahlen ein echter Selbstläufer und gibt Ballweg Auftrieb für neue Taten.
Sein „Verfassungskonvent" könnte am 3. Oktober passend zum Tag der Deutschen Einheit stattfinden. Günstigerweise wäre es wieder ein Samstag. In den ersten zwei Septemberwochen sollte ein „Verfassungscamp" am Rand des Berliner Tiergartens stattfinden. Das Bundesverfassungsgericht hat ein Verbot dieser „Dauermahnwache" zwischenzeitlich bestätigt. Geplant von den Querdenkern war, dass am Ende des Camps eine Volksverfassung stehen sollte, die das Grundgesetz ersetzen wird, das ja nur ein Provisorium sei und „beim ersten Schritt der staatlichen Einheit Deutschland 1990 hätte ersetzt werden müssen." Die Einheit ist bekanntlich seit 30 Jahren vollzogen, das Grundgesetz hat Bestand. „Ein nicht länger hinnehmbarer Zustand", so der Cheforganisator von Querdenken 711. Die juristischen Feinheiten dazu hätten wir vom FORUM gern mit dem 45-jährigen Software-Unternehmer persönlich besprochen, doch das ist nicht ganz so einfach.
Interviewanfragen müssen online gestellt werden, dazu muss ein recht ausführlicher Fragebogen ausgefüllt werden. Alle Angaben des Reporters dürfen selbstverständlich drittverwertet werden. Doch auch mit ausgefüllten Fragebogen heißt das noch lange nicht, dass man auch ein Interview bekommt. Bei Querdenken denkt man ganz offensichtlich auch beim Umgang mit den Medien quer zur bisher üblichen Linie. Bislang gilt: Wer sich als Journalist eindeutig ausweisen kann, darf bei Demonstrationen auch fotografieren, filmen und Interviews führen. Denn diese Kundgebungen finden im öffentlichen Raum statt. Doch selbst Reportern mit „4-fach-Akkreditierung", also der höchsten Stufe, die es bundesweit überhaupt gibt, werden bei Querdenken-Kundgebungen schon mal darauf hingewiesen, dass ihnen ja der hauseigene „Querdenken-Pass" fehlen würde. Im Zweifel steht ein freundliches Querdenken-„Deeskalationsteam" bereit, um den Reporter bei seiner Arbeit zu begleiten, um so Konflikte mit den Demonstrierenden zu vermeiden. Wo sich die Medienprofis der Querdenker diese Idee zur organisierten Pressearbeit abgeschaut haben, lässt sich allenfalls spekulieren. Es wirkt jedenfalls wie der Versuch, irgendwie die Berichterstattung in eine genehme Richtung lenken zu wollen. Das hat schon in den analogen DDR-Zeiten nicht funktioniert und hat heute im digitalen Zeitalter überhaupt keine Chance mehr.
Bundespräsident mit ernster Mahnung
Dabei pflegt man bei den Organisatoren der Corona-Demos längst, eine eigene Gegenöffentlichkeit herzustellen. Eine logische Konsequenz, fühlt man sich doch von den Mainstreammedien unfair behandelt. Wie etwa bei der Berichterstattung über den ersten Querdenken-Aufzug in Berlin.
Der öffentlich ausgetragene Streit um die Teilnehmerzahl zog sich über Tage, die Diskrepanz der Angaben war beträchtlich. Deren genaue Ermittlung ist aber ganz offensichtlich einer unheilvollen Allianz aus Demonstrationsrecht und Hygieneauflagen zum Opfer gefallen, wie Recherchen ergeben haben. Der Anmelder darf in Corona-Zeiten auf einem Quadratkilometer öffentlichem Straßenland eine bestimmte Anzahl Teilnehmer melden. Dann wird die Demo genehmigt, da ja alle den verlangten Mindestabstand einhalten können. Liegt diese Zahl nun aber bei der Durchführung erheblich darüber, droht dem Anmelder reichlich Ärger. Aber auch dem polizeilichen Einsatzleiter, wenn der nicht umgehend die Veranstaltung auflöst. Wobei Letzterer auch auf die Verhältnismäßigkeit seiner Maßnahmen beachten muss. Löst der Einsatzleiter wegen der „Nichteinhaltung der Mindestabstände" eine Kundgebung auf und riskiert Krawall mit Verletzten wegen einer möglichen Massenpanik? Eine Gratwanderung. Nicht auszuschließen, dass dann Zahlen klein geschätzt werden, was in gewisser Weise auch dem Veranstalter erst mal nutzt, weil die Demo nicht aufgelöst werden muss.
Es gibt zwar erprobte Zählweisen der Polizei bei Großveranstaltungen, aber genauso gibt es nach jeder Veranstaltung Streit um Zahlen und um damit die Deutungshoheit über das Geschehen. US-Präsident Trump hat das umgekehrt bei seiner Amtseinführung gemacht, die Besucherzahlen hochgerechnet, woraufhin der Begriff „alternative Fakten" (zu den offiziellen Polizeiangaben oder Medienschätzungen) in der Welt war.
Tatsächlich sind an einem Großdemo-Samstag in der Berliner Innenstadt schon mal gut einige Hunderttausend Menschen unterwegs, was bei an die 1.000 angemeldeten Kundgebungen gar nicht so schwer ist. Und jeder Anmelder hat seine Wunschzahlen, mal kleingerechnet wegen Corona-Bedingungen, mal hochgerechnet, um die Bedeutung zu steigern.
Endgültig unübersichtlich wird es, wenn Extreme versuchen, Demos für ihre Zwecke zu instrumentalisieren oder Radikale versuchen, Demos zu „kapern". So ging zum Beispiel der „Sturm auf den Reichstag" nicht auf das Konto von Anhängern von Querdenken, sondern wohl auf die Anhänger des Reichsbürgers Rüdiger Hoffmann zurück. Der hatte bereits vormittags seine Anhänger immer wieder aufgeputscht, „das Haus des Volkes zurückzuerobern".
Damit hatten die Alt-68er, Esoteriker, Letzte Jünger Jesu, Familien mit Kindern oder der meditierende buddhistische Mönch Dada Madhuvidyananda von der Hauptkundgebung an der Siegessäule etwa einen Kilometer entfernt zwar nichts zu tun. Trotzdem war im Vorfeld absehbar, was Berlin erwarten würde. Auch deshalb sah sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu klaren Worten aufgerufen: „Wer nur gleichgültig neben Neonazis, Fremdenfeinden und Antisemiten herläuft, wer sich nicht eindeutig und aktiv abgrenzt, macht sich mit ihnen gemein."