Ob Belarus oder Syrien: Kremlchef Putin beansprucht das Recht auf Intervention
Gewöhnliche Menschen feiern ihren Geburtstag mit Familie und Freunden. Kuchen wird aufgefahren, der Tisch ist mit Kerzen dekoriert, vielleicht fliegt noch eine Ladung Konfetti durch die Luft. Der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, lässt sich zum 66. mit Maschinenpistole und kugelsicherer Weste ablichten. Der Staatschef in Kampfmontur, bereit, gegen Hunderttausende Demonstranten auch mit militärischer Gewalt vorzugehen. Menschen, die die 26 Jahre andauernde Lukaschenko-Diktatur satt haben und ein Leben ohne Fremdbestimmung führen wollen.
Die Botschaft des Hardliners: Die Proteste gegen die mutmaßlich gefälschte Wahl am 8. August haben keine Chance. Leute, die an den Kundgebungen teilnehmen, werden festgenommen, im Gefängnis geschlagen oder gefoltert. Die Polizei entzieht Journalisten die Akkreditierung oder verweist sie des Landes. Freie Berichterstattung ist für Ein-Mann-Herrscher eine Kriegserklärung.
Aber irgendwie scheinen die nicht abschwellenden Massenkundgebungen Lukaschenko doch beeindruckt zu haben. Am Montag erklärte er sich zu „Veränderungen" bereit. Doch Gespräche mit Vertretern der Oppositionsbewegung will er nicht führen. Dies legt den Verdacht nahe, dass die Reformsignale nicht mehr als rhetorische Kosmetik sind – weiße Salbe, die an dem Regime in Minsk nichts ändert.
Russlands Präsident Wladimir Putin unterstützt Lukaschenkos Politik der eisernen Faust. Er hält Sicherheitskräfte seines Innenministeriums als Interventions-Reserve in Stellung, sollte die Lage im Nachbarland eskalieren. Der Kremlchef sieht sich als Hüter des Status quo. Die Forderungen nach Selbstbestimmung sind für ihn Propaganda-Mythen des Westens. Farbenrevolutionen wie in Georgien 2003 (Rose) oder in der Ukraine 2004 (Orange) brandmarkt er als „vom Ausland gesteuerte Umsturzversuche".
Doch Putin wird nicht nur von der Sorge getrieben, dass im Vorgarten seines Riesenreiches ein Demokratie-Labor mit Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit entstehen könnte. Der russische Präsident fürchtet vielmehr, dass der Belarus-Funke auf sein Land überspringen könnte. In einigen Regionen züngelt bereits Unzufriedenheit hoch. In Chabarowsk im fernen Osten gehen die Menschen seit dem 11. Juli auf die Straße – zuvor war der populäre Gouverneur Sergej Furgal unter dubiosen Vorwürfen inhaftiert wurden. Zum Teil richten sich die Proteste offen gegen Putin.
Der wichtigste russische Oppositionspolitiker, Alexej Nawalny, war fasziniert von den Widerständlern in Belarus, an denen sämtliche Drohungen Lukaschenkos abprallten. Die Zivilgesellschaft hatte die Angst abgeschüttelt. Für alle Autokraten dieser Welt bedeutet dies Alarmstufe Rot. Passierte dies in Russland auf breiter Front, würde das auch für den Kremlchef gefährlich. Nawalnys Mitarbeiter sind überzeugt, dass ihre Leitfigur von der russischen Führung vergiftet worden ist, unter Mitwisserschaft von Putin. Ein westlicher Diplomat in Moskau hält es für möglich, dass der Staatschef – ein gelernter KGB-Offizier – seinen Sicherheitsdiensten gelegentlich grausame Strafaktionen erlaubt. Auch, um seine Legitimität im engsten Umfeld zu erhöhen.
Selbst wenn Putins Paladine alles abstreiten: Es gibt ein Muster, nach dem Kritiker der Staatsspitze mit Angriffen auf ihr Leben rechnen müssen. Zuletzt wurden der Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia 2018 Opfer eines Giftanschlags, den sie nur knapp überlebten.
Putin ist ein postsowjetischer Politiker mit sowjetischen Reflexen. Die Weiterexistenz des Systems und der Ausbau von Einflusssphären gehen ihm über alles. Im Grunde handelt es sich um eine Breschnew-Doktrin 4.0. So wie der damalige KPdSU-Generalsekretär im August 1968 den Prager Frühling mit Panzern niederwalzen ließ, beansprucht Putin heute das Recht auf Militär-Intervention. Damals ging es um die „beschränkte Souveränität" der Warschauer-Pakt-Staaten, sollte der Sozialismus bedroht sein. Unter Putin steht die Zementierung verbündeter Regime an erster Stelle.
Der russische Präsident schmetterte alle Vorstöße westlicher Staaten ab, den syrischen Machthaber Baschar al-Assad auf einen Dialog mit der Opposition zu verpflichten. Ein knallhartes „Njet" zum Reformprozess. Mit der gleichen Härte wird er versuchen, Lukaschenko im Amt zu halten.