Bombenkrieg, Werftenkrise und nun auch noch Corona – Rotterdam hat in der Vergangenheit viele Tiefs überlebt und wird wohl auch das aktuelle überstehen. Die niederländische Hafenstadt zählt zu den zehn sehenswertesten Orten der Welt.
Das Schöne an dieser Stadt ist, dass sie nicht so holländisch ist", scherzt Simone. In der Stadt höre man alle Sprachen dieser Welt. Menschen aus 170 Nationen leben in der zweitgrößten Stadt der Niederlande mit ihren rund 650.000 Einwohnern. Die Architektin bloggt unter „Nach Holland" über die Niederlande. Vor 20 Jahren zog sie für eine Stelle nach Rotterdam.
Man brauchte Fachleute, die an den kühnen Träumen von Hollands ewig Zweiter mit bauen wollten: Eine Drahtseilbrücke über die Neue Maas zu Füßen des landesweit höchsten Wohnturms, die 44 Etagen hohe vertikale Stadt De Rotterdam von Rem Koolhaas und andere Luftschlösser. Dann kam die Krise.
Seit 2007 warten die Pläne auf Geldgeber, zum Beispiel für Katendrecht. Der Weg dorthin führt über die 1996 erbaute Erasmusbrücke nach Kop van Zuid. „Schwanenhals" nennen sie das geschwungene Bauwerk seiner eleganten Form wegen. Darüber verschwimmen die glatten Fassaden der Hochhäuser in den tief hängenden Wolken. Erhalten geblieben ist beim Umbau der Halbinsel Katendrecht das „Hotel New York". In seiner Mischung aus Jugendstil und Art déco ist es aus der Zeit gefallen. „Holland-Amerika Lijn" steht in goldener Schrift über dem Eingang. Bis in die 1960er-Jahre brachen hier Hunderttausende in die Neue Welt auf.
„SuperUSe Studios" von fünf Designern gegründet
„Rotterdam ist roh, immer in Bewegung und in ständigem Umbruch", erzählt Paul, der gegenüber in einer alten Lagerhalle des Hafens sein Restaurant „Posse" eröffnet hat. Er sitzt im karierten Hemd mit seinem Laptop an einem der großen unbearbeiteten Holztische. An der Wand hängt ein restauriertes schwarzes Fahrrad. Im Regal stehen nur ein paar alte Keksdosen. Metalllampen spenden gedämpftes Licht. Der bärtige Inhaber mit dem stylischen Kurzhaarschnitt ist Fotograf. Er sammelt klassische Fahrräder, kauft europaweit Fotokunst und serviert Leckereien aus frischen einheimischen Zutaten. Sein Opa war Hafenarbeiter. „Er schleppte für zehn Cent Tageslohn 25 Kilo schwere Säcke auf die Schiffe. Zum Überleben brauchte er Erfindergeist." Das, meint Paul, sei typisch Rotterdam. „Wir haben unglaublich viele kreative Leute hier."
Fünf Designer gründeten zum Beispiel die „Superuse Studios". Sie bauen Spielgeräte aus demontierten Windrädern, Fassadenverkleidungen aus alten Kabelrollen, die Inneneinrichtung für Büros und Museen aus Stahlresten oder Toilettenhäuschen aus überflüssig gewordenen Flüssigkeitstanks. Zwei davon stehen im Jugendzentrum Worms, das Superuse komplett mit Upcycling-Produkten eingerichtet hat.
Rotterdam ist voller Ideen. Immer wieder hat sich die Hafen- und einstige Werften-Metropole aus Krisen herausgearbeitet. Am 14. Mai 1940 bombardierte die Nazi-Luftwaffe das Zentrum. Drei Tage brannte die Stadt. Kanäle und der breite Fluss, die Neue Maas, stoppten das Feuer. Brandgrens – Brandgrenze – heißt heute noch die scharfe Kante, die den Schnitt zwischen dem alten und dem neuen Rotterdam markiert.
Kaum war Holland befreit, kamen Architekten aus dem ganzen Land, um die Stadt wiederaufzubauen: autogerechte Straßen, Bürohauskästen, Läden und 1948 die erste Fußgängerzone Europas, die Lijnbaan. Statt Windmühlen Wolkenkratzer, statt Grachten Würfelbauten und nun ein Manhattan-Tower am futuristischen Hauptbahnhof mit seiner mattgrau verkleideten Dreiecksfassade.
Als die Niederländer im Wirtschaftsaufschwung Arbeitskräfte brauchten, holten sie sich Gastarbeiter aus Marokko, der Türkei und aus anderen Ländern. Dazu kamen Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien Indonesien und Lateinamerika. Auf der Straße, in der U-Bahn, hinter den Tresen ihrer Imbissbuden mit Aufschriften wie „Surinaamse Eethuis" – überall sieht man Gesichter aus Südostasien und der Karibik.
Khalid Alkordi ist 2014 aus den Folterkellern des Assad-Regimes in Syrien entkommen. Über Libyen schaffte er es mit einem der Flüchtlingsboote nach Italien. „Ich wusste gar nicht, wo ich hin sollte", erinnert sich der 31-Jährige an eine Nacht in Mailand. Von dort bringen Taxis die Flüchtlinge für rund 700 Euro pro Person in andere EU-Länder. Der Fahrer fragte: „Wohin?" Khalid erinnerte sich an seinen Vater, der einst für die niederländische Fußballmannschaft schwärmte, und antwortete spontan: „Holland."
Syrer plant ein Begegnungshotel
Er landete in einem Auffanglager. Dort fragte man ihn nach einigen Monaten, in welcher Stadt er zukünftig leben wolle. Ihm fiel Erasmus von Rotterdam ein und dass die Stadt eine bekannte Uni hatte. Weil er weiter studieren wollte, nannte er Rotterdam – und sein Wunsch ging in Erfüllung: „Die Schönheit dieser Stadt sind ihre Menschen", sagt Khalid Alkordi heute über seine neue Heimat. Hier habe man ihn unglaublich offen und hilfsbereit aufgenommen.
Weil er fließend Englisch spricht, übersetzte er schon in Italien für die anderen Flüchtlinge. Aus der Unterkunft in den Niederlanden heraus fand er einen Job in einem kleinen Hotel, dann eine Stelle bei einem Anbieter von Gastgewerbe-Software. Nun will er etwas zurückgeben: das Hotel der Hoffnung. Seine Idee: Ein Hotel für Einheimische und Touristen, in dem sich Menschen aus verschiedenen Kulturen begegnen, gemeinsam kochen, essen, reden, Musik machen und feiern. Auf dem Dach sollen Anwohner und Gäste gemeinsam Gemüse anbauen. Auch die Nachbarn sollen das Hotel als das ihre annehmen.
Anstellen will er Leute, die auf dem ersten Arbeitsmarkt zum Beispiel wegen Sprachproblemen oder einer Behinderung keinen Job finden. Ihnen will er – zunächst in einem Traineeprogramm – neuen Sinn im Leben geben. Rotterdams zweiter Bürgermeister habe ihm schon die Unterstützung der Stadt zugesagt. Jetzt fehlen noch geeignete Räume und weitere Investoren für das Startkapital. Khalid Alkordi fühlt „tiefe Dankbarkeit: Ich liebe diese Stadt. Für mich ist sie ein sicherer Hafen." Die Folter, die er in Syrien erlitten hat, breche einen Menschen oder mache ihn stark. Er habe in Syrien Freunde und seine Freundin verloren. Am schlimmsten waren für ihn „die Schreie der anderen Folteropfer". Dennoch sei es ihm gelungen, wieder aufzustehen und nach vorne zu schauen – ein bisschen wie Rotterdam nach Bombenkrieg, Werftenkrise und vielen anderen Rückschlägen.
Gläsernes Hochhaus auf einem Kaufhaus
„Du willst ein altes englisches Feuerschiff in den Hafen legen und darauf Partys feiern? Mach es", fasst der Kellner des V11 die Einstellung der Stadtverwalter zusammen. Im Wijnhaven, einem der vielen innerstädtischen Hafenbecken, liegt zwischen Hausbooten, kleinen Yachten und schwimmenden Hostels ein knallrotes eisernes Schiff. Ein paar Enthusiasten haben es vor Jahren in England gekauft, nach Rotterdam gebracht und zum Pub umgebaut. Unter Deck gibt es eine Theke, Sitzbänke, Sessel und eine Tanzfläche.
„So lange sich niemand beschwert, kannst du hier fast alles machen", erzählt Architektin und Tourguide Anneke. Sie zeigt Häuser, die in den deutschsprachigen Ländern keine Genehmigung bekämen. Ein Bauherr hat ein fünf Meter schmales Häuschen auf Stelzen über einen Parkplatz gesetzt. Ein anderer wohnt in einem Kasten, der auf Stahlträgern zwei Bürogebäude verbindet. Ein Dritter baute sein glasglitzerndes Hochhaus auf ein zum Abbruch vorgesehenes Kaufhaus von 1948.
Was nicht passt, wird passend gemacht. Der Reiseführer „Lonely Planet" zählt Rotterdam inzwischen zu den zehn sehenswertesten Orten der Welt. Der Kellner auf dem V11-Feuerschiff freut sich über das neue Image: „Touristen bringen Geld, und wir sind stolz darauf, ihnen unsere Stadt zu präsentieren."
Hinweis: Die Recherche zu diesem Beitrag wurde unterstützt von Rotterdam Partners und vom Niederländischen Tourismus- und Kongressbüro NBTC.