Das Usedomer Musikfestival findet auch im Corona-Jahr 2020 statt – zum geplanten Termin und ohne inhaltliche Abstriche. Themenland ist diesmal Norwegen.
Der Stolz war Intendant Thomas Hummel anzumerken, als er Ende Juli im Rahmen einer Pressekonferenz im Seebad Heringsdorf das Programm des Usedomer Musikfestivals präsentierte. Denn ihm und seinem Team ist etwas gelungen, an dem viele andere Veranstalter in Deutschland in den vergangenen Monaten gescheitert sind. Das lange vor Corona geplante Event kann zum vorgesehenen Termin und mit einem nahezu unveränderten Programm stattfinden. Die marginalen Änderungen haben zwar mit der Pandemie zu tun, aber anders, als man vermuten würde. Am 10. Oktober wäre nämlich das NDR Elbphilharmonie Orchester in China aufgetreten. Da Corona die geplante Konzertreise unmöglich gemacht hat, können die Hamburger jetzt im Kraftwerk von Peenemünde spielen und dort unter anderem Werke von Robert Schumann und dem Norweger Harald Sæverud zum Vortrag bringen.
Musik des Widerstands
Von Letzterem kommt dabei die „Ballade des Aufruhrs" zur Aufführung. Harald Sæverud hatte sie 1943 geschrieben und verstand sie als seinen Beitrag zum norwegischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Den Kampf der Norweger gegen die Nazis übersetzt der Komponist, in dem er das Stück ruhig und zurückhaltend beginnen lässt, um es dann zu immer größerer Intensität zu steigern. Die BBC verwendete während des Zweiten Weltkriegs Motive aus der „Ballade des Aufruhrs" als Erkennungssignal für ihr Programm in norwegischer Sprache. Sæverud gilt in Norwegen als antiromantischer Gegenspieler zu Grieg. Auch dem wohl bekanntesten norwegischen Komponisten schenkt man auf Usedom in diesem Jahr ausführlich Beachtung – denn Norwegen ist Schwerpunktland beim diesjährigen Musikfestival. Entsprechend widmet sich die Mehrzahl der gut 40 Konzerte Komponisten oder Musikern aus dem Land der Fjorde.
Kunstgenuss auf Abstand
Obwohl zwar beim Programm keine Abstriche gemacht wurden, wird beim diesjährigen Musikfestival insgesamt nichts so sein wie zuvor. Die üblichen Corona-Regeln müssen die Besucher auch auf Usedom einhalten – ausreichend Abstand bei den Konzerten, Handdesinfektion und Masken auf dem Weg zum vorab gebuchten Sitzplatz. So werden beispielsweise die Gäste im riesigen Kraftwerk von Peenemünde nicht in Reihen sitzen, sondern in Gruppen. So, als hielte man ein Picknick auf der Wiese ab, bleiben zwischen „Fremden" ein paar Meter Freifläche. Außerdem betreten die Zuschauer die Konzerte, wo immer das möglich ist, durch unterschiedliche Eingänge. Da Ein- und Ausgang verpflichtend zugewiesen werden und jeder nur dort hinaus darf, wo er auch hereingekommen ist, wird der Kontakt unter den Musikfans soweit möglich minimiert. Intendant Thomas Hummel betont aber auch, dass es unmöglich sei, in Corona-Zeiten verlässliche langfristige Aussagen zu machen – so könnten sich die Auflagen noch am Tag der Aufführungen ändern.
Zweimal statt einmal
Wegen Corona wird der Personalaufwand für das Festival deutlich höher sein als in den vergangenen Jahren. Die Veranstaltungsorte so vorzubereiten, dass sie allen Hygieneauflagen gerecht werden, sei, so Hummel, extrem aufwendig. Auch bei den Konzerten werden so viele Helfer unterwegs sein wie noch nie zuvor. So wird beispielsweise die Zahl der Platzanweiser, die die Gäste sicher zu ihren Plätzen bringen, deutlich erhöht. Die Einnahmen werden dagegen geringer ausfallen. Die 15.000-Zuschauer-Marke, die bei letzten Ausgaben der Musikfestspiele immer übertroffen wurde, wird diesmal bei Weitem nicht erreicht werden. Höhere Ausgaben stehen also deutlich geringeren Einnahmen gegenüber. Umso wichtiger sei es, so Hummel, dass die Sponsoren weiterhin zum Festival stünden und das Land für den Fall der Fälle eine Ausfallbürgschaft übernommen habe.
Da die Zuschauerzahlen pro Aufführung stark begrenzt werden müssen, finden stark nachgefragte Konzerte zweimal an einem Tag statt. Wer seine Tickets bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie erworben hat, bekommt so auf jeden Fall einen Platz im gewünschten Konzert. Auch der weltbekannte norwegische Jazzmusiker Jan Garbarek, der zum Eröffnungskonzert in der Lokhalle von Ahlbeck auftritt, wird nachmittags und abends auf der Bühne stehen. Garbarek ist nur einer der Stars, die im Corona-Jahr 2020 in den äußersten Nordosten Deutschlands kommen werden. Kaum weniger bekannt ist das Dag Arnesen Trio, das jazzige Improvisationen von Werken von Edvard Grieg zum Besten geben wird. Die Mezzosopranistin Marianne Kielland wiederum zählt zu den Größten ihres Faches und hat im vergangenen Jahr bei den Salzburger Festspielen gesungen. Als eine der wenigen skandinavischen Künstlerinnen hat sie eine Grammy-Nominierung vorzuweisen.
Spektakuläre Spielorte
Hochkarätige Musiker treten an besonderen Orten auf – das gehört zum Konzept des Usedomer Musikfestivals – so finden auch bei dieser Ausgabe Konzerte in verschiedenen Kirchen auf der Insel statt.
Musiziert wird aber auch im alten Lokschuppen in Ahlbeck und im Schloss Stolpe. Ein ganz besonderes Flair strahlt die ehemalige Halle des Kraftwerks Peenemünde aus. Hier liefen ab Mitte der 1930er-Jahre die Turbinen heiß, um Strom für das damals größte militärische Forschungsprogramm Europas herzustellen. Im Auftrag der Nazis wurden hier unter anderem V1- und V2-Raketen produziert, die Tausenden Menschen den Tod brachten. Seit 2002 finden in der riesigen Turbinenhalle Konzerte statt –
dieses Mal mit einer coronabedingt sehr lockeren Bestuhlung.
Gedankenreise mit Musik
Die Heringsdorfer Bürgermeisterin Laura Isabelle Marisken betont die herausragende touristische Bedeutung des Festivals. Marisken, die in der Anfangszeit des Pandemieausbruchs für besonders strenge Corona-Regeln eintrat und sich für eine völlige Abriegelung der Insel starkmachte, hofft jetzt auf einen „saisonverlängernden Effekt" durch das Festival. Und sie betont, ganz Politikerin, den Stellenwert, den das Usedomer Musikfestival speziell in diesem Jahr hat. Wenn man in Zeiten beschränkter Reisefreiheit schon nicht selbst nach Norwegen fahren könne, hole man das Land eben hierher.