Einer aktuellen Studie zufolge leben 1,5 Millionen Kinder von Hartz IV in Deutschland. Wie beeinträchtigt das die jungen Menschen langfristig? Und welche Wege führen aus der Armut?
Es ist schon 20 Jahre her, dass sich der Verband Arbeiterwohlfahrt (Awo) das Thema Kinderarmut auf die Agenda gesetzt hat. Das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) wurde mit einer empirischen Untersuchung dieses gesellschaftspolitischen Phänomens beauftragt. Nun stellte das ISS Anfang des Jahres die Ergebnisse einer Langzeitstudie vor, die es so bislang noch nicht gab. Die Studie ist nicht repräsentativ, aber sie ist die bislang einzige in Deutschland, die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen der Einkommensarmut von Familien und den Lebenslagen der Kinder analysiert. Ist Armut ein unausweichliches Schicksal? Wie beeinflusst und beeinträchtigt sind arme Kinder auch mittel- und langfristig?
Um das herauszufinden, haben die Forscher zwischen 1997 und 2000 Daten von 893 Kindern in 60 Kindertagesstätten der Awo erhoben und dann noch viermal in regelmäßigen Abständen – im Alter von sechs, zehn und 16 beziehungsweise 17 Jahren. In der letzten Studienphase, die 2017 begann, sind die Teilnehmenden dann Mitte 20. Bei den Analysen wollten die Wissenschaftler rekonstruieren, was aus den ehemals sechsjährigen, von Armut betroffenen Kindern geworden ist und ob die Studienteilnehmer die Familienarmut bis zum jungen Erwachsenenalter überwinden konnten. Wenn ja, dann stelle sich die Frage „Was hat ihnen geholfen?". Wenn nicht, dann „Wie können wir dies erklären?" Das erläutert die Politikwissenschaftlerin und Psychologin Irina Volf, die die Langzeitstudie „Wenn Kinderarmut erwachsen wird" leitet.
Konnte die Armut überwunden werden?
Als arm definiert werden der Studie zufolge Haushalte, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland verfügen oder staatliche Mindestsicherungsleistungen wie Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe, Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen. Neben der finanziellen Situation der Familien betrachten die Forscher noch weitere Dimensionen. Die Einschätzung ihrer Lebenssituation orientiert sich an ihrer materiellen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Lage. Jeder habe seine eigene Sicht, wie er Armut definiert. Eine rein auf das Einkommen bezogene Definition gehe an der Lebenswelt der jungen Menschen vorbei, sagen die Autoren der Studie.
Das positive Teilergebnis vorweg: Armut in der Kindheit muss kein Lebensschicksal sein, so Volf. „Das ist das Schöne an der Studie. Wir konnten nachzeichnen: Es gibt auch Wege heraus." Es gebe keinen Automatismus, der aus armen Kindern zwingend arme Erwachsene werden lässt. Dennoch zeige die Studie auch: „Viele junge Erwachsene mit Armutserfahrung entkommen der Armut nicht. Ein Drittel der armen Kinder bleibt auch im jungen Erwachsenenalter arm. Der Übergang ins junge Erwachsenenalter ist dabei ein Scheideweg im Leben dieser Menschen. Er ist eine Chance, der Armut der Familie zu entwachsen. Er kann aber auch in die weitere Armut führen", erklärt es die Psychologin.
Zwei Drittel der Befragten haben den Ausstieg aus der Armut geschafft. Ein Drittel der armen Kinder bleibt auch im jungen Erwachsenenalter arm. Besonders gefährdet waren Frauen. Doppelt so häufig wie die männlichen Teilnehmer lebten junge Frauen trotz gleicher Bildung weiter in der Armut. Das hängt zum einen mit der Berufswahl und den dort herrschenden Bedingungen zusammen. Gerade in Gesundheits- und Pflegeberufen, die zumeist von Frauen ausgeübt werden, müssten sich die Bedingungen verbessern, fordert die Awo. Hinzu komme die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Vor allem alleinerziehende Frauen, die schon im jungen Erwachsenenalter eine Familie gegründet haben, gelten als armutsgefährdet.
Generell kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass arme junge Erwachsene mehr Schwierigkeiten bei sogenannten Entwicklungsaufgaben wie Bildung und Ausbildung, Erwerbstätigkeit, dem Auszug aus dem Elternhaus, dem Eingehen einer festen Partnerschaft und dem Gründen einer Familie mit eigenen Kindern haben. Insbesondere gehe Armut mit geringerem Ausbildungsniveau, geringerer Erwerbsbeteiligung, prekärer Beschäftigung und früher Familiengründung einher.
Ihr Alltag sei häufig geprägt durch Verzicht und durch die Anstrengung, Geld einzusparen. Die armen jungen Erwachsenen haben deutlich häufiger keine Ersparnisse und Rücklagen, verzichten häufiger auf Urlaub und berichten häufiger über Einschränkungen im Bereich der Mobilität. Sie seien formal oft schlechter qualifiziert, haben schlechtere soziale Netzwerke und häufig fehle ihnen eine feste Partnerschaft, so die Autoren der Studie.
Gesundheitliche Lage schlechter
Dazu kommt, dass auch die Gesundheit der armen jungen Erwachsenen deutlich schlechter ist als die ihrer Altersgenossen. Bei ihnen kumulierten viele Gesundheitsrisiken: Sie treiben seltener Sport, nehmen seltener Vorsorgeuntersuchungen wahr, nehmen unregelmäßig warme Mahlzeiten ein und sind auch selbst mit ihrer Gesundheit häufiger unzufrieden. Bei rund 26 Prozent der Befragten sei die gesundheitliche Lage auffällig. Sie berichten deutlich häufiger von depressiven Symptomen, die mehrmals pro Woche auftreten, sowie von einschneidenden Ereignissen im Leben, die sie heute noch belasten, und von chronischen Erkrankungen. Klar ist also: Armut wirkt sich negativ auf alle vier Dimensionen aus, besonders deutlich aber sind die Unterschiede in der materiellen und gesundheitlichen Situation.
Hilfreich waren für viele Personen mit Armutserfahrung die Familie und gute Beziehungen zu Bezugspersonen. Dabei handelt es sich der Studie zufolge in armen Familien meist um die Mütter, weil die Väter häufig abwesend seien. Arme Mütter trügen die doppelte Last und seien alleine für Versorgung und Fürsorge zuständig. Zur Verbesserung ihrer Situation seien für viele arme junge Erwachsene auch alternative Bildungswege eine gute Möglichkeit gewesen, die vielfach wahrgenommen wurde, wie etwa Berufskollegs.
Um der Armut zu entkommen, seien vor allen Dingen die Übergänge im Leben von Bedeutung: „Die Studie zeigt deutlich: Übergänge sind Scheidewege. Wenn es an diesen sensiblen Übergangsphasen im Leben passende soziale Dienstleistungen und ein funktionierendes soziales Netz gibt, dann steigen die Chancen der Betroffenen, der Armut zu entkommen. Was es also braucht, ist eine stärkere präventive Ausrichtung – einen Paradigmenwechsel, der Armut im Vorhinein verhindert, statt ausschließlich an individuellen Armutssymptomen herumzudoktern, die das strukturelle Problem nicht lösen. Die Studie ist ein politischer Auftrag! Uns kann es nicht zufriedenstellen, wenn in Deutschland in jedem fünften Kinderzimmer die Armut mitspielt", betont der Awo-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler.
Tatsächlich hängt Kinderarmut nicht nur mit der Armut der Eltern zusammen, sondern geht auch auf regionale Unterschiede zurück. Das Kinderhilfswerk hat Daten des Statistischen Bundesamtes ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder nicht nur in allen 16 Bundesländern stärker armutsgefährdet sind als Erwachsene, sondern auch je nach Bundesland mehr oder weniger. So lag die Armutsgefährdungsquote von Kindern in Bayern mit 12,9 Prozent um 1,5 Prozentpunkte über der von Erwachsenen mit 11,4 Prozent. In Bremen – am anderen Ende des Ländervergleichs – fiel die Differenz mit 15,6 Prozentpunkten dagegen deutlich höher aus. Die meisten Bundesländer verzeichneten Werte zwischen fünf und acht Prozent.
Awo stellt fünf Forderungen
Auch auffällig: Während in der einen Hälfte der Bundesländer zwischen 2008 und 2018 die Armutsgefährdung bei Kindern stärker als die der Erwachsenen gestiegen ist, hat sich in der anderen Hälfte die Quote von Kindern im Vergleich zu den Erwachsenen verringert. Besonders positive Entwicklungen liegen laut der Auswertung in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen vor. Einen negativen Trend mit einer Zunahme der Armutsgefährdung insgesamt sowie einer stärkeren Zunahme bei Kindern verzeichneten Länder wie Bremen und Rheinland-Pfalz.
„Natürlich ist Kinderarmut eng mit der Armut der Eltern verknüpft, aber die unterschiedliche Entwicklung der Armutsquoten von Kindern und Erwachsenen zeigt, dass das Problem einer eigenständigen Lösung bedarf", erklärt der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, Thomas Krüger. Bund, Länder und Kommunen müssten nach Ansicht der Organisation ihren Kampf gegen Kinderarmut deutlich intensivieren. Positiv bewertet das Kinderhilfswerk das von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey initiierte „Starke-Familien-Gesetz", das im vorigen Jahr in Kraft getreten ist, sowie die Änderungen beim Bildungs- und Teilhabepaket. Dies seien wichtige Schritte zur Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland, allerdings fordert die Organisation, müsse jetzt „eine Kindergrundsicherung folgen, die ihren Namen verdient".
Armut habe in Deutschland an vielen Stellen ein Kindergesicht und die Förderung armer Kinder und ihrer Familien sowie unbürokratische Zugänge zu armutsvermeidenden Leistungen gehöre auf der Prioritätenliste ganz nach oben, so Krüger weiter. „Wichtig ist zudem die umfassende Information der Anspruchsberechtigten. Um Kinder und Familien mit den vorhandenen Hilfs- und Unterstützungsleistungen besser zu erreichen, sollte die Bundesregierung den Vorschlag der Familienministerkonferenz zur Einrichtung von Familienservicezentren aufgreifen, in denen Familien qualifiziert beraten werden und möglichst auch Leistungen beantragen können."
Auch die Awo stellt als Konsequenz aus der Studie fünf Forderungen auf: Einkommens- und Familienarmut müsse wirkungsvoll bekämpft werden, die kinder- und familienpolitischen Leistungen müssten reformiert werden, ebenso müsse die soziale Infrastruktur vor Ort gestärkt werden. Bildung sei ein wichtiger Schutzfaktor gegen Armut und bedürfe weiterer Investitionen. Und schließlich müssen die jungen Menschen beim Übergang zu Ausbildung und Beruf unterstützt werden, betont Awo-Bundesvorsitzender Wolfgang Stadler. Dass in einem der reichsten Länder der Welt immer noch jedem fünften Kind, also insgesamt drei Millionen Kindern und Jugendlichen, „legitime Ansprüche auf Wohlergehen, Anerkennung und Zukunftschancen verwehrt werden", will man dort nicht hinnehmen.