Die Pandemie greift die Wirtschaft auf vielen Ebenen an, auch die Ausbildung. Der Beginn des Ausbildungsjahres verzögert sich, Prüfungstermine waren oft unklar. Dennoch sieht Christina Mersch, Bereichsleiterin Ausbildung der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Licht am Ende des Tunnels – wenn alle mitmachen.
Frau Mersch, viele deutsche regionale Medien berichten, in diesem Ausbildungsjahr gebe es insgesamt weniger Ausbildungsverträge. Beobachten Sie dies ebenfalls?
Endgültige Zahlen kennen wir noch nicht, dazu ist es noch zu früh. Die derzeit bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldete Zahl der Ausbildungsstellen bewegt sich um acht Prozent niedriger als vergangenes Jahr, ebenso die Zahl der Ausbildungsplatzsuchenden. Rein rechnerisch ist es also durchaus möglich, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Denn es gibt, wie vor der Pandemie, noch immer mehr freie Ausbildungsplätze als Bewerber. Die Zahl der geschlossenen Ausbildungsverträge, sowohl in unserem Bereich, also in Industrie und Handel, als auch im Handwerk, ist aber rückläufig.
Woran liegt der Rückgang der Ausbildungen?
Zunächst konnten viele Azubis und Betriebe in Zeiten des Lockdowns nicht zueinanderfinden. Es gab keine Möglichkeit, Bewerbungsgespräche zu führen, keine Berufsorientierung an Schulen, keine Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit. Die komplette Orientierungs- und Bewerbungsphase hat sich im Zuge der Pandemie nach hinten verschoben, sodass wir jetzt nicht sagen können, dass der 1. August oder 1. September tatsächlich der Startschuss des neuen Ausbildungsjahres war. Wir gehen davon aus, dass derzeit noch Verträge geschlossen werden. Erst am Ende des Jahres werden wir sagen können, um wie viel die Zahlen sich tatsächlich verringert haben, dazu ist jetzt noch viel zu viel Bewegung drin.
Die Zahl der Jugendarbeitslosigkeit liegt laut regionalen Meldungen, zum Beispiel in Niedersachsen, ebenfalls um einiges höher als im Vorjahreszeitraum. Gehen Sie davon aus, dass die Zahl weiter steigen wird?
Wir sind in vielen Gremien unterwegs, in denen sich Vertreter der Ausbildungsbetriebe und alle, die an der Ausbildung in Deutschland beteiligt sind, treffen. Im Augenblick befinden wir alle uns, sozusagen, auf der Suche nach den Jugendlichen: Was tun diejenigen, die ihre Schule abgeschlossen, aber keine Ausbildung begonnen haben? Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Einige mögen beschlossen haben, noch weiter zur Schule zu gehen und einen höheren Abschluss zu erwerben. Andere wechseln in Berufe, die in Vollzeitschulen ausgebildet werden wie etwa Gesundheits- und Erziehungsberufe. Schüler mit Hochschulzugangsberechtigung könnten noch verstärkter ins Studium drängen. Wieder andere warten vielleicht ab, wie sich die wirtschaftliche Lage entwickelt und können diese Zeit überbrücken. Also: Werden die Jugendlichen jetzt wirklich arbeitslos oder finden sie andere Wege? Diese Frage versuchen wir gerade zu beantworten.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier verbreitet angesichts besserer Konjunkturaussichten Zuversicht und hofft auf einen V-förmigen Verlauf der Krise. Wie sollten Azubis also jetzt reagieren?
Der Ausbildungsmarkt bietet noch Chancen. In unserer IHK-Ausbildungsbörse sind derzeit noch immer 11.000 freie Stellen gelistet – wer also jetzt noch auf der Suche ist, den sollte man bestärken, sich weiter zu bewerben. Die Flexibilität bei den jungen Leuten ist aber auch gefordert: Schaue ich jetzt nur nach meinem Wunschberuf oder bin ich so flexibel, mich eventuell woanders, auch in einer anderen Region, nach einem Ausbildungsplatz umzuschauen? Klar ist, es gibt Branchen, bei denen es nur langsam aufwärtsgeht: die Tourismus- und Eventbranche, Gastronomie, Hotellerie. Lebensmitteleinzelhandel, IT, Banken haben hingegen stabile Aussichten und stellen teilweise sogar mehr junge Leute ein als vorher. Das Bild ist sehr divers im Augenblick, hier muss man den Markt branchenspezifisch betrachten.
Es gibt die Initiative von Minister Hubertus Heil, eine Ausbildungsprämie an Betriebe auszuschütten, die auch während der Pandemie ausgebildet haben oder mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen – ist dies die richtige Antwort auf die derzeitige Situation?
Die Ausbildungsprämien können nicht leisten, dass Betrieb und Azubi zueinanderfinden. Das ist jetzt unsere größte Herausforderung. Es kann aber motivierend sein für Betriebe, die ausbilden möchten, auch jetzt zu sagen, ich nehme noch einen Azubi mehr auf. Aber ob man dadurch einen großen Effekt erzielen wird, ist jetzt nicht abzusehen. Es liegen bei der Bundesagentur für Arbeit noch keine Zahlen vor, wie viele Betriebe in Deutschland diese Prämien beantragt haben. Auch hier brauchen wir noch Zeit, dies zu bewerten.
Was müssen denn Betriebe jetzt tun, um sich auf die derzeit schwierigere Ausbildungssituation einzustellen?
Das hängt von der Betriebsgröße ab. Große Betriebe haben manchmal einen Vorlauf von einem Jahr für ihre Azubis, hier waren die Verträge also schon abgeschlossen, bevor der Lockdown begann. Derzeit sind es oftmals eher kleinere oder mittlere Betriebe, die noch Plätze freihaben. Diejenigen aber haben tendenziell nicht das Marketing, um großflächig auf sich aufmerksam zu machen. Wir haben in unseren Befragungen gesehen, dass kleinere Betriebe gerne Azubis einstellen, aber Probleme haben, von den Jugendlichen überhaupt wahrgenommen zu werden. Was dann dazu führt, dass sie manchmal über Jahre keine Azubis abbekommen haben. Für sie gibt es oft nur die Chance, sich bei der jeweiligen Kammer zu melden, die Lehrstellenbörse zu nutzen, vielleicht auch regional zu versuchen in die Presse zu kommen. Aber das ist häufig ein Aufwand, den kleinere Betriebe nicht stemmen können.
Stichwort Aufwand: Ausbildung ist ein Aufwand für die Betriebe, die in manchen Branchen vor die Existenzfrage gestellt werden. Glauben Sie, das wird die Investitionen in Ausbildung und damit die Qualität kurzfristig mindern?
Ausbildung hat schon lange nicht mehr einen so hohen Aufmerksamkeitswert gehabt wie derzeit. In Gesprächen mit Ausbildungsbetrieben wissen wir, dass sich viele besonders angestrengt haben, um die Ausbildung fortzuführen. Wer die Verantwortung übernommen hat, kann sich auch nicht in Pandemie-Zeiten einfach zurückziehen. Die Unternehmen wurden kreativ, ließen ihre Azubis in anderen Betrieben aushelfen, wenn sie selbst in Kurzarbeit waren. Azubis im kaufmännischen Bereich konnten in virtuellen Formaten weiter im Homeoffice betreut werden. Es gab viele Lösungen, vor allem virtueller Natur. Betriebe wie zum Beispiel Restaurants hatten dabei definitiv das Nachsehen, sie können den angehenden Koch nicht virtuell ausbilden. Hier müssen wir schauen, ob diese das nachholen und nacharbeiten können. Aber wir erleben eine hohe Sensibilität gegenüber den jungen Leuten.
Sie sehen also nicht die Gefahr, dass die Bereitschaft zur Ausbildung wegen Investitionskosten abnehmen könnte?
In einer Umfrage unter Ausbildungsbetrieben haben wir festgestellt, dass die Betriebe an ihrem Engagement festhalten. Es ist klar, wir brauchen jetzt, aber auch wenn es wieder aufwärts geht, unsere Fachkräfte, und auch neue Fachkräfte. Denn das Thema Fachkräftemangel ist nicht verschwunden. Das ist vielen bewusst. Wir sehen, dass die Firmen sehr verantwortungsvoll damit umgehen, wenn sie nicht wissen, wie es für sie weitergeht. Dann heißt es: Wir bilden derzeit nicht aus, bevor der Azubi mitten in der Ausbildung vor dem Nichts steht. Diese Befragung werden wir kontinuierlich weiterführen, weil wir natürlich auch wissen, dass sich die Lage sehr schnell ändern kann.
Welche Langzeitwirkung könnte die Pandemie auf die Ausbildungsplätze in Deutschland haben?
Wir haben in der Finanzkrise 2009 gesehen, dass die Zahl der Ausbildungsplätze gesunken ist. Jetzt verfolgen wir die Zahlen, ob es wieder einen solchen Einbruch gibt. Unabhängig davon haben wir aber grundsätzlich ein Nachwuchsproblem. Seit 2005 gibt es 200.000 Schüler weniger, die die Schule abschließen; wir haben gleichzeitig einen großen Zulauf in Gesundheits- und Erziehungsberufe. Also werden wir sehr genau nachprüfen und unterscheiden müssen, wenn die Zahlen sinken: Ist es der Pandemie allein geschuldet oder ist es ein Demografieproblem, ein Problem eines Ausbildungstrends.