Nawalny-Schock: Ein Aufschub von Nord Stream 2 wäre das richtige Signal
Es sieht ganz danach aus, dass der Fall Nawalny zu einer Zeitenwende in den deutsch-russischen Beziehungen führt. Die Chemiewaffen-Attacke auf den wichtigsten russischen Oppositionspolitiker – von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) als „versuchter Giftmord" bezeichnet – dürfte einen diplomatischen Klimasturz nach sich ziehen, dessen Folgen noch nicht absehbar sind.
Bislang hatte die Kanzlerin ein pragmatisches Verhältnis zum russischen Präsidenten Wladimir Putin. Rückschläge wie die Annexion der Krim 2014, der Hackerangriff auf den Bundestag 2015 oder der Mord an einem Georgier tschetschenischer Abstammung im Kleinen Tiergarten in Berlin 2019 wurden trotz aller Empörung weggesteckt. Es gab harsche Verurteilungen und zum Teil EU-Sanktionen.
Doch am Ende hatten übergeordnete Interessen Vorrang: Die ökonomische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland blieb intakt. Die Gas-Pipeline Nord Stream 2 durch die Ostsee galt als „wirtschaftliches Projekt" und war gegen politische Strafmaßnahmen immun. Zudem brauchte man Russland als geopolitisch einflussreichen Akteur zur Lösung von Konflikten in der Ukraine, in Libyen oder Syrien.
Der Nawalny-Schock hat die diplomatische Routine zwischen Berlin und Moskau erschüttert. Wenn die Analyse des Bundeswehr-Labors stimmt und ein Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe „zweifelsfrei" gegen Nawalny eingesetzt wurde, ist dies ein bedeutendes Indiz: Der in der Sowjetunion entwickelte chemische Kampfstoff war nur wenigen Personen aus dem Militär und/oder den Geheimdiensten zugänglich. Vieles spricht dafür, dass an Nawalny ein menschenverachtendes Exempel statuiert werden sollte. Das Signal an die Opposition: „Finger weg vom System – oder ihr steht auf der Liste."
Wenn dies so ist, können Deutschland und Europa nicht einfach wegschauen und zur Tagesordnung übergehen. Die Beschwörung der westlichen Werte, die gern zur rhetorischen Ausschmückung von Sonntagsreden angeführt werden, wäre dann eine wertlose Litanei.
In der deutschen Politik macht sich die Einschätzung breit, dass sich nach dem Anschlag auf Nawalny etwas verändert hat. Der Umgang damit ist ein Lackmustest für die eigene Glaubwürdigkeit. Die indirekte Drohung von Außenminister Heiko Maas (SPD) – entweder die Russen liefern zeitnah die Aufklärung der Hintergründe, oder Nord Stream 2 ist nicht mehr unantastbar –, ist ein neuer Ton, der neue Aktionen andeuten könnte. Die Kanzlerin will einen Stopp des Erdgas-Deals ebenfalls nicht mehr ausschließen. Ähnlich äußerten sich die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, FDP-Spitzenmann Christian Lindner, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen, und Friedrich Merz, der sich um die Führung der CDU bewirbt.
Die Wirtschaft ist Putins Achillesferse. Das Problem: Russland ist nur eine Öl- und Gasgroßmacht. Der Präsident hat es versäumt, sein Land zu modernisieren und Wohlstand für die Menschen zu schaffen. Die Löhne stagnieren seit Jahren, während die dem Kreml nahe stehenden Oligarchen Milliarden Dollar anhäufen.
Hinzu kommen die Bürger-Proteste gegen Korruption, wie seit Wochen in der Region Chabarowsk im Fernen Osten. Die Massendemonstrationen in Belarus sind für den Putin ein Menetekel: Wenn der Funke des Nachbarlandes auf Russland übergreift, könnte auch seine Autorität brüchig werden.
Das System in Moskau verschanzt sich in der Wagenburg. Putins Paladine drehen den Spieß einfach um: Deutschland solle „Aufklärung" zu Nawalnys Laborbefund liefern. Staatsmedien verbreiten derweil Propaganda-Nebel: Mal wird behauptet, Nawalnys Zusammenbruch sei auf einen Zuckerschock zurückzuführen, mal wird dem Dissidenten Alkoholismus, Drogensucht oder eine überzogene Diät unterstellt. Das deutet nicht auf Kooperation in der Angelegenheit hin.
Sanktionen sollten keinesfalls leichtfertig verhängt werden. Sie wären eine schwere Keule, die auch europäische Unternehmen treffen würde. Aber sollte Moskau im Fall Nawalny weiter mauern und lediglich Ablenkungsmanöver starten: Dann wäre ein Aufschub für Putins Prestige-Vorhaben Nord Stream 2 zumindest ein Signal, dass Deutschland und Europa die kaltblütige Ausschaltung politischer Gegner nicht einfach achselzuckend zur Kenntnis nehmen würden. Business as usual darf es nicht geben.