Olympiasiegerin Viktoria Rebensburg hat vor Beginn der alpinen WM-Saison ihre beeindruckende Karriere für beendet erklärt. Für den DSV ist ihr Rücktritt ein Schock: Mit einem Schlag steht der Verband eineinhalb Jahre vor den Winterspielen in Peking fast ohne eine ernsthafte Medaillenhoffnung da.
Aus dem Nichts wedelte Viktoria Rebensburg vor etwas mehr als zehn Jahren auf denkbar spektakuläre Weise in den Olymp und damit ins gleißende Rampenlicht. Fast genauso aus dem Nichts erklärte die alpine Riesenslalom-Goldmedaillengewinnerin der Winterspiele 2010 in Salt Lake City nun Anfang September das Ende ihrer durchaus imponierenden Karriere.
Der Verlust seiner letzten von drei alles überstrahlenden Galionsfiguren des vergangenen Jahrzehnts trifft den Deutschen Ski-Verband (DSV) schwer: Nach den vorangegangen Rücktritten von Doppel-Olympiasiegerin Maria Höfl-Riesch vor sechs Jahren und dem Pistenabschied des früheren Vizeweltmeisters Felix Neureuther steht der Verband wenige Monate vor den Weltmeisterschaften in Cortina d’Ampezzo und auch nur noch eineinhalb Jahre vor den Olympischen Winterspielen in Peking im Frauenbereich plötzlich völlig ohne ernsthafte Siegfahrerin da und hat auch insgesamt lediglich durch Kitzbühel-Spezialist Thomas Dreßen noch einen einzigen Protagonisten mit dem Prädikat „Weltklasse". DSV-Alpinchef Wolfgang Maier verdeutlichte denn auch mit klaren Worten die Dimension von Rebensburgs Entscheidung. „Für uns ist das ein Worst-Case-Szenario. In einer noch dazu sehr schwierigen Phase fällt die Galionsfigur weg", kommentierte Maier die Auswirkungen des Rücktritts auf die Perspektiven seines Verbandes. Tatsächlich werden die Probleme, für deren Bewältigung der DSV sich vor allem durch Rebensburg und deren vorerst weiteren Top-Resultate Zeit erhofft hatte, schon in wenigen Wochen in der neuen Weltcup-Saison voraussichtlich deutlich zutage treten. Von den durchaus vorhandenen Talenten im Frauen-Kader sind die meisten gerade erst an der Schwelle zur Weltklasse angekommen, und die vielversprechendsten Hoffnungsträgerinnen wie Marlene Schmotz und Kira Wiedle kämpfen entweder mit den Folgen von Verletzungen oder Rückschlägen in ihrer Entwicklung. Gleichwohl dürfte der Druck ab sofort ungleich höher sein als bisher, wie Maier schon erwartet: „Das Schutzschild, das Viktoria Rebensburg ihnen in den vergangenen Jahren geboten hat, ist jedenfalls weg."
Neureuther hält punktuell durch seine Erfolge oder eben von Rebensburg aufpolierte DSV-Bilanzen bei Großereignissen wie Weltmeisterschaften oder Olympia in der näheren Zukunft kaum noch für realistisch. „Halleluja, das ist für den DSV schon ein Brett", meinte der 36-Jährige zu den Aussichten in der nun letztlich unerwartet schnell angebrochenen Post-Rebensburg-Ära.
Neureuther hält große Erfolge für unrealistisch
Vergleiche mit der Ausnahmekönnerin aus Kreuth sind ohnehin nur schwer möglich. Die 30-Jährige gehört schließlich zu den besten und auch erfolgreichsten deutschen Skifahrerinnen. Ihre 19 Siege bei Weltcup-Rennen, darunter auch ihr einziger Abfahrtstriumph im vergangenen Februar in ihrem nunmehr vorletzten Rennen auf der Kandahar in Garmisch-Partenkirchen, werden bei den Frauen nur von Katja Seizinger, Höfl-Riesch und Hilde Gerg übertroffen, und Neureuther sowie Olympiasieger Markus Wasmeier reichten mit Abstand nicht an Rebensburgs Erfolgsbilanz heran.
Ihren größten Triumph feierte Rebensburg allerdings schon zu Beginn ihrer Laufbahn. Nach drei Jahren als junge Mitläuferin im Weltcup düpierte das damalige Talent vom Tegernsee 2010 im olympischen Riesenslalom ohne auch nur einen einzigen vorherigen Weltcupsieg die gesamte Weltelite. Den deutschen Wintersport-Fans unvergessen sind die Bilder aus Salt Lake City, wo die 20-Jährige im Zielraum nach ihrem Toplauf mit staunenden Augen erlebte, wie sich eine Konkurrentin nach der anderen auf der Piste vergeblich an ihrer Spitzenzeit abarbeitete und letztlich wieder einmal ein olympischer Traum wahr wurde.
Doch zugleich erwies sich der Olympiasieg für Rebensburg in den nachfolgenden Jahren auch als eine Art Fluch. Nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für „Gold-Vicky" war fortan immer der Coup von 2010 der Maßstab. Kaum verwunderlich, dass ihre WM-Silbermedaille von 2015 und im Vorjahr sowie selbst Olympia-Bronze bei den Spielen 2014 in Sotschi auf bemerkenswerte Weise immer auch der Ruch einer Niederlage anhaftete. Drei Gesamtsiege im Riesenslalom-Weltcup konnten an diesem Gesamteindruck nur wenig ändern.
Womöglich wegen ihres großen Potenzials. Bereits in den Anfangsjahren ihrer Karriere stürzte sich Rebensburg deutlich aggressiver als ihre Rivalinnen in den technischen Disziplinen in den Berg. Ihre Schwünge im Riesenslalom waren mit Abstand die schnellsten, und zudem verfügte Rebensburg über eine hohe technische Überlegenheit. Einzig ihre mitunter zu große Angriffslust verhinderte in so manchem Rennen einen neuen großen Wurf.
Das Wichtigste ist, dass man den Flow im Training bewahrt
Ihren Ehrgeiz bewies Rebensburg in der zweiten Hälfte ihrer Laufbahn durch ihre Entwicklung zur Allrounderin mit Ambitionen eben auch in den Speed-Disziplinen Super-G und Abfahrt. Doch die Verschmelzung von Talent und Fleiß gelang nicht vollkommen, hatte Rebensburg sich durch ihre neue Zielsetzungen doch in eine Zwickmühle manövriert: Lag der Schwerpunkt des Trainings auf Speed, litten ihre Möglichkeiten im Riesenslalom, und übte Rebensburg wieder verstärkt ihre Lieblingsdisziplin, ging in den Speed-Rennen der Anschluss an die Elite wieder verloren. Eine Rückbesinnung auf ihre ursprüngliche Stärke indes war für Rebensburg keine Option, augenscheinliche Grenzen erschienen ihr vielmehr als motivierende Herausforderung.
Umso glücklicher schien Rebensburg denn auch noch Anfang August. Offenkundig bestens gelaunt kommentierte die deutsche Nummer eins ein Foto nach dem Training im sonnenüberfluteten Saas-Fee mit den Worten „Lächeln, wenn Du wieder den Schnee unter Deinen Füßen fühlst". Die Impressionen aus der Schweiz passten zu ihrem bekannten Credo: „Das Wichtigste ist, dass man es genießt, jeden Tag rauszugehen, den Sonnenaufgang am Berg zu sehen, dass man den Flow im Training bewahrt, auch wenn es hart ist, dass man Spaß am Fahren hat. Das ist es, was für mich das Ganze ausmacht."
Seit dieser Momentaufnahme Anfang August in der Schweiz aber müssen Rebensburg das Lächeln beim Gefühl von Schnee unter ihren Füßen und der Spaß am Ganzen abhanden gekommen sein. Vielmehr hat sich offenbar ein anderes, weniger schönes Gefühl zur bitteren Gewissheit verfestigt: „Von klein auf", begründete Rebensburg in ihrem Rücktrittsvideo bezeichnenderweise vor den noch grünen Hängen ihrer Heimat, „war es immer mein Anspruch, um den Sieg mitzufahren. Aber diesem Anspruch kann ich nicht mehr gerecht werden." Rebensburg verwies dabei auf ihre Empfindungen und Wahrnehmungen während des vorangegangenen Gletscher-Trainings: „Ich kann mein Topniveau nicht mehr erreichen. Deswegen ist es unausweichlich, diese Entscheidung zu treffen."
Sie hat gemerkt, dass sie sich sehr schwer tut
Ihr langjähriger Weggefährte Neureuther fand Rebensburgs Entscheidung nicht zuletzt aufgrund des selbstbestimmten Zeitpunktes aller Ehren wert. „Sie hat eine Entscheidung getroffen, mit der sie zufrieden ist."
Rebensburgs bisheriger Chef Maier hielt auch ihre abermalige Knieverletzung aus ihrem letzten Rennen im Super-G von Garmisch – einen Tag nach ihrem Abfahrtssieg an gleicher Stelle – für einen wichtigen Faktor bei der Entscheidungsfindung: „Sie hat zuletzt schon gemerkt, dass sie sich sehr schwer tut mit der Überwindung", konstatierte er und meinte damit jene Entschlossenheit und Härte gegen sich selbst, die Topstars wie die US-Amerikanerin Mikaela Shiffrin vom Rest der Konkurrenz unterscheidet: „Sie hat dadurch wohl auch gespürt, dass ihre Zeit in der ersten Reihe abgelaufen ist." In Maiers rückblickender Gesamtbewertung von Rebensburgs Laufbahn wird dennoch ihre Ausnahmestellung deutlich: „Sie hat brutal viel erreicht. Darauf kann sie stolz sein."