Eigentlich wäre die Fußball-EM 2020 nun schon Geschichte. Doch wegen der Corona-Pandemie findet die Endrunde erst im kommenden Jahr statt. Das könnte für Bundestrainer Joachim Löw und die deutsche Nationalmannschaft ein Vorteil sein.
Toni Kroos musste nicht lange überlegen. „Stand heute würde ich das definitiv mit Ja beantworten", sagte der Weltmeister und Star von Real Madrid dieser Tage auf die Frage, ob die Verschiebung der EM 2020 in den nächsten Sommer für Deutschland sogar ein Vorteil sein könnte. „Es ist zumindest schon mal ein Vorteil, dass Spieler wie Nicki und Leroy wieder fit sind", sagte Kroos.
Der von Bundestrainer Joachim Löw als Abwehrchef vorgesehene Niklas Süle und der als Außenspieler in den Überlegungen des Bundestrainers hoch geschätzte Leroy Sané hatten im Vorjahr Kreuzbandrisse erlitten und waren zum ursprünglichen Termin noch nicht turnierfit. Wie auch Marco Reus. Aus diesem Grund sieht auch der neue ZDF-Experte Per Mertesacker die Verschiebung als Vorteil. „Und weil die junge Mannschaft ein Jahr mehr Zeit hat, sich zu finden." Löw hatte nach dem peinlichen Vorrunden-Aus als Titelverteidiger bei der WM 2018 einen Umbruch eingeleitet. Dass vor ihm noch ein weiter Weg liegt, zeigten die beiden 1:1-Spiele gegen Spanien und in der Schweiz in der Nations League.
Neuer und Kimmich sind die Eckpfeiler
Auch, wenn die Achse von Champions-League-Sieger FC Bayern München dabei fehlte. Manuel Neuer und Joshua Kimmich sind neben Kroos die beiden Eckpfeiler in Löws Team, Serge Gnabry ist auch schon gesetzt, und Leon Goretzka befindet sich auf der Überholspur. Sie alle durften sich Anfang September wie die Leipziger Außenverteidiger Marcel Halstenberg und Lukas Klostermann von den Anstrengungen des Champions-League-Finalturniers erholen.
Rund ein Dreivierteljahr vor dem nun geplanten Beginn der Euro in zwölf Ländern am 11. Juni stellt FORUM aber die Frage: Wie weit sind Löws Sorgenkinder und Hoffnungsträger?
DIE SORGENKINDER
Niklas Süle: Im Vorjahr soll Süle etwas verstimmt gewesen sein über Bayern-Präsident Uli Hoeneß, der angekündigt hatte, die Europameisterschaft sei für den Innenverteidiger „ad acta gelegt, die können Sie total vergessen". Süle hatte immer das Ziel, noch in der Spielzeit 19/20 aufs Spielfeld zurückzukehren. Das schaffte er – allerdings nur wegen der durch Corona bedingten Saison-Verlängerung. Mitte Juni kehrte er ins Mannschaftstraining zurück. Die EM wäre zu diesem Zeitpunkt schon gestartet gewesen, und Süle hätte die komplette Vorbereitung verpasst. Eine EM-Teilnahme wäre also illusorisch gewesen. Für kommendes Jahr scheint sie nun sicher.
Beim Champions-League-Turnier im August wurde er in allen vier Spielen eingewechselt und zeigte vor allem bei einem katastrophalen Fehler im Halbfinale gegen Lyon noch einige Wackler. Im Endspiel kam er schon nach 35 Minuten für den verletzten Jérôme Boateng und war schon deutlich stabiler. In den Länderspielen agierte Süle ebenfalls wechselhaft, gegen Spanien stand er bombensicher, gegen die Schweiz etwas weniger. Ein wenig hüftsteif wirkt Süle eh manchmal, dennoch gibt es an guten Tagen an ihm kaum ein Vorbeikommen, weil er Körperlichkeit mit Schnelligkeit und Einsatz paart. Doch ein Spieler wie er braucht absolute Fitness. Bis zum Sommer hat er nun noch Zeit, wenn auch anstrengende Wochen und Monate für einen Rekonvaleszenten.
Leroy Sané: Die Szene war hoffentlich nicht symbolisch: In der Nachspielzeit der ersten Halbzeit des Schweiz-Spiels führte Sané bei einem aussichtsreichen Konter den Ball. Er verlor den Überblick, wollte den Ball rechts rausspielen, schoss ihm den Gegner in den Fuß. Er ließ sich auf den Boden fallen, der Schiedsrichter pfiff zur Pause und Löw wechselte Sané in der Halbzeit aus. Der Nationalmannschafts-September war für ihn beendet.
Schon im Vorjahr war der Wechsel des früheren Schalkers von Manchester City zum FC Bayern wohl ausgehandelt, ehe sich Sané einen Kreuzbandriss zuzog. Nun ist er doch in München. Ein Jahr später, deutlich billiger (45 Millionen Euro), hochmotiviert, aber eben doch nach einem Jahr ohne Spielpraxis. Auch auf die Teilnahme an der Champions-League-Endrunde mit Manchester verzichtete der 24-Jährige noch, um sich gezielter körperlich in Form bringen zu können. Das könnte eine weise Entscheidung gewesen sein. Doch die Saison wird lang. Sané muss sich in neuem Umfeld einfinden und sich Stammplätze beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft sichern. Trotz seiner oft mangelnden Torgefahr – in bester Position wird Sané oft noch hektisch oder will ein Schleifchen drumbinden – wäre der Tempo-Dribbler bei kompletter Fitness eine echte Waffe für beide Mannschaften.
Wie viel Löw – der mit Leroys Vater Sammy Sané einst ein Sturm-Duo beim SC Freiburg bildete und offenbar davon geprägt immer noch beharrlich „Leroy Sahne" sagt – von ihm hält, zeigte dann aber auch der September. Obwohl in der Nations League nur drei statt wie in der Bundesliga und im Europacup fünf Auswechslungen erlaubt sind und sicher war, dass Sané noch keine 90 Minuten schafft, stand er in beiden Spielen in der Startelf.
Marco Reus: Er ist nur etwa ein halbes Jahr jünger als Mats Hummels oder Jerome Boateng und sogar fast vier Monate älter als Thomas Müller. Dennoch fiel der Kapitän von Borussia Dortmund im Gegensatz zu den drei anderen nicht dem Umbruch von Löw zum Opfer. Wahrscheinlich, weil der Bundestrainer das Gefühl hat, dass die Geschichte zwischen der Nationalelf und Reus noch nicht zu Ende ist. Ja vielleicht noch gar nicht richtig angefangen hat.
Obwohl der 31-Jährige sein Debüt im A-Team schon 2011 gab, kommt er auf gerade mal 44 Länderspiele. Das macht durchschnittlich weniger als fünf pro Jahr. Die WM 2014 und die EM 2016 verpasste er wegen zwei seiner vielen Verletzungen, bei der WM 2018 war er im ersten Spiel Joker, stand dann im zweiten in der Startelf und schoss gegen Schweden den Ausgleich, beim Ausscheiden gegen Südkorea ging er mit unter. Löw glaubt offenbar fest an Reus‘ Ehrgeiz, noch seine Geschichte in der Nationalelf zu schreiben, die die Weltmeister Hummels, Boateng und Müller längst geschrieben haben.
Deshalb hat er ihn als Leader für die jungen Spieler in der Offensive vorgesehen. Doch von Februar bis September fiel Reus schon wieder aus. Um sich im ersten Test danach gleich mit einer starken Leistung zurückzumelden. Vielleicht findet die geplagte Liaison Reus/DFB ja doch noch ein Happy End. Sollte er für die EM erneut ausfallen, wäre das hingegen fast noch tragisch.
DER HOFFNUNGSTRÄGER
Kai Havertz: Hoffnungsträger sind die drei eben Genannten natürlich auch. Doch Kai Havertz ist einer ohne Verletzungs-Vorgeschichte. Dennoch ist der nach seinem 100-Millionen-Wechsel von Leverkusen nach Chelsea nun teuerste deutsche Fußballer in der Nationalmannschaft bisher noch nicht mehr als ein Versprechen gewesen.
Ganze siebenmal stand er bisher für das A-Team auf dem Platz, im Durchschnitt dauerte sein Einsatz etwa eine Halbzeit . Dafür war Havertz schon an vier Toren beteiligt, was eine Quote von mehr als einem Scorer-Punkt in 90 Minuten macht. Weil er wie Thomas Müller am liebsten zentral, rechts offensiv oder als zweite Spitze agiert, war die Frage „Müller oder Havertz" die Generations-Frage des heutigen deutschen Fußballs.
Die Bayern schienen sich unter Trainer Nico Kovac zunächst für Havertz zu entscheiden, schwenkten unter Hansi Flick aber bewusst um und nahmen von einer Havertz-Verpflichtung Abstand. Löw dachte umgekehrt. Wenn er eine Müller-Rückkehr immer wieder mit dem Verweis ablehnt, dass er jungen Spielern Raum schaffen will, denkt er eben vor allem an einen: Kai Havertz, das größte Versprechen des deutschen Fußballs.
Doch übrigens: Wenn man die EM-Verschiebung als positiv beurteilt, weil Süle, Sané und Reus eine zweite Chance erhalten könnten, so muss man doch abwarten, ob im kommenden Jahr tatsächlich niemand ausfällt. „Die Belastung wird sehr hoch werden", sagt Ersatz-Kapitän Kroos: „Es muss gute Absprachen geben zwischen den Vereinen und Verbänden. Sonst befürchte ich viele Verletzungen."