Der Ärmelkanal-Tunnel rettete Lille in den 90er-Jahren aus der Strukturkrise. Im Umkreis des neuen Durchgangsbahnhofs entstand Euralille, Frankreichs drittgrößtes Business-Viertel. Nun trägt die nordfranzösische Metropole den Titel „Weltdesignhauptstadt".
An der riesigen Kathedrale von Lille wurde mehr als 150 Jahre lang gebaut. Die Planer überschätzten ihre finanziellen Ressourcen; dann kamen die Weltkriege. Die Kirche wurde nie vollendet, sodass man Ende des 20. Jahrhunderts einen rigorosen Schlussstrich zog. Nun schließt eine moderne, schmucklose Westfassade das neogotische Gemäuer ab – Sinnbild dessen, was die nordfranzösische Stadt Lille im Großen ausmacht: Die flandrische, fein sanierte Altstadt kontrastiert mit den Neubauten des Geschäftsviertels Euralille.
Lille trägt in diesem Jahr den Titel Weltdesignhauptstadt, der alle zwei Jahre von der World Design Organization (WDO) vergeben wird. Diese NGO mit Mitgliedern aus 40 Ländern zeichnet seit 2008 Städte aus, die ihre Entwicklung mittels Design vorantreiben.
„Als früheres industrielles Zentrum, das sich im wirtschaftlichen Umbruch befand, stellt Lille die Rolle von Design als treibende Kraft für einen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Wandel eindrucksvoll heraus", begründet Mugendi M’Rithaa, der Vorsitzende der World Design Organization, die Wahl von Lille, das den Titel nach Turin, Seoul, Helsinki, Kapstadt, Taipei sowie Mexico City trägt. Auch der Nachfolger für 2022 steht bereits fest: Valencia.
Die Auszeichnung Weltdesignhauptstadt geht nicht nur an Lille mit seinen gerade mal 230.000 Einwohnern, sondern an den gesamten Ballungsraum, genannt Lille Métropole, der 1,2 Millionen Menschen in 90 Gemeinden umfasst.
Einst war Lille eine reiche Stadt
Dieser Ballungsraum wird von der weltweit ersten vollautomatischen U-Bahn zusammengehalten. Auf ihren „Mongy", benannt nach dessen Konstrukteur Alfred Mongy, sind die Anwohner sehr stolz, wurde die Metro doch von ortsansässigen Unternehmen entwickelt und gebaut.
Als wichtiges Zentrum des europäischen Textilhandels war Lille einst eine reiche Stadt. Das erkennt man noch heute an den historischen Prunkbauten von Börse, Rathaus und Handelskammer sowie den prächtigen Bürgerhäusern rings um der Grand Place, den zentralen Platz im Herzen der Altstadt. Doch in den 60ern begann der ökonomische Niedergang und damit eine unglückselige Spirale von Arbeitslosigkeit, Armut, Abwanderung.
An der Überwindung dieser Strukturkrise hat Pierre Mauroy großen Anteil, Lilles Bürgermeister von 1973 bis 2001. Als man in den späten 80ern den Eurotunnel unter dem Ärmelkanal baute, setzte Mauroy durch, dass die Hochgeschwindigkeitszüge auf der neuen Strecke zwischen Paris und London in Lille halten. Dafür wurde hier 1994 ein Durchgangsbahnhof eröffnet, nur wenige Hundert Meter vom historischen Kopfbahnhof der Altstadt entfernt. Brüssel ist seither in einer halben, Paris in einer vollen Stunde erreichbar. Nach London rauscht man in zwei Stunden.
Die Gegend hat nun ein Pfund, mit dem sie wuchern kann: die strategische Toplage als europäischer Verkehrsknotenpunkt. Rings um den neuen Bahnhof ist Euralille
entstanden, das drittgrößte Geschäftsviertel Frankreichs.
„Als Stadtplaner wurde der damals noch unerfahrene Rem Koolhaas angeheuert", erzählt Fabrice Veyron-Churlet, Generaldirektor von Euralille SPL, der öffentlich-privaten Gesellschaft, die das neue Bahnhofsviertel entwickelt. „Auf 120 Hektar umfasste sein Masterplan ein gemischt genutztes Viertel mit einem von Jean Nouvel entworfenen Einkaufszentrum, den Bahnhof mit zwei Bürotürmen, einen Park sowie das von Koolhaas selbst gestaltete Kongresszentrum."
Seither wurde Euralille mehrfach erweitert. „Bei neuen Baumaßnahmen steht die Nachhaltigkeit im Vordergrund", erläutert Fabrice Veyron-Churlet. „Als es vor drei Jahrzehnten mit Euralille losging, war das noch nicht so ein großes Thema."
Ein Hingucker am Bahnhof ist das neue „Mama Shelter"-Hotel, ein markant alleinstehender Neubau, dessen geometrische Form die Gestalt der alten Handelskontore aufgreift. Im neuen Teil von Euralille steht ebenfalls der „Wohn-Wald", das Quartier „Habité Bois", mit seinen individuell gestalteten Mehrfamilienhäusern. Hier lässt es sich angenehm spazieren, auf begrünten Wegen, entlang mit Bäumen bestandenen Gärten.
Architekten nutzen früheres Klarissenkloster
Im Unterschied zu den Stadtplanern der Euralille-Großprojekte setzen die Programmmacher der Weltdesignhauptstadt auf eine Vielzahl bürgernaher, dezentraler Vorhaben. Sie fragten verschiedene Akteure – Unternehmen, Kommunen, Bürger, Künstler oder Wissenschaftler – nach ihren Ideen für den Wandel der Stadt. Die Einfälle reichten vom neuen Skater-Park bis zur Unterstützung von Analphabeten. „Wir haben 500 Vorschläge ausgewählt und wollen im Design-Jahr testen, welche davon funktionieren", sagt Adèle Berrault vom World Design Organizing Comitee.
Die Vorschläge wurden in fünf Themenbereiche gebündelt: Gesundheit, Wohnen, Kreislaufwirtschaft, Gemeinschaft, öffentlicher Dienst. „Jeder Bereich hat eine Anlaufstelle, genannt Maison POC. Sie wird von einem Designer geleitet, der die jeweiligen Aktivitäten koordiniert und der Öffentlichkeit präsentiert", so Adèle Berrault.
Nach coronabedingtem Aufschub sollen die Projekte nun am 9. September anlaufen. Darunter auch das Maison POC „Kreislaufwirtschaft", das zwölf Kilometer nordöstlich von Lille, in der einstigen Industriestadt Rubaix, angesiedelt ist.
In Rubaix gab es einst Hunderte von Fabriken, die Wolle verarbeiteten. Von wohlhabenden Zeiten zeugt das riesige, wie eine Zuckertorte geschmückte Rathaus. Heute gilt Rubaix als ruhiger und bezahlbarer Vorort von Lille. Zahlreiche Künstler haben sich hier niedergelassen, verkaufen ihre Erzeugnisse in Laden-Werkstätten. Größter touristischer Anziehungspunkt des Städtchens ist das Kunstmuseum „La Piscine", das sich in einem einstigen Art-déco-Schwimmbad befindet.
Zum Design-Jahr hat die Kommune Rubaix dem ortsansässigen Architekten-Kollektiv Zerm das ehemalige Klarissenkloster zur Nutzung überlassen. Die Beteiligten beschäftigen sich mit der Wiederverwertung von Baustellen-Abfällen. „Wir wollen das Gebäude erhalten, hier nachhaltig und abfallfrei zusammenleben, und den Bewohnern eine Vielzahl von Umweltaktivitäten anbieten", erzählt die beteiligte Architektin Lola Bazin.
Stadt und Region stellen Gelder für ein umfangreiches Begleitprogramm zum Design-Jahr zur Verfügung. Durch zahlreiche Ausstellungen, Events und Konferenzen will Lille seine Innovationen für eine nachhaltige, designorientierte Stadtpolitik präsentieren.
Ab September öffnen die großen Ausstellungen zum Design-Jahr. Sehenswert ist sicherlich eine Schau in der eleganten Gartenvilla Cavrois, einem Meisterwerk der Architekturmoderne, das Robert Mallet-Stevens für einen Textilfabrikanten aus Rubaix entwarf. Hier zeigt das belgische Designer-Duo Muller Van Severen seine Entwürfe.
Das Architekten-Kollektiv Arc en Rêve bespielt den „Kultur-Bahnhof" Gare Saint-Sauveur und fragt nach mehr Nachhaltigkeit im Bau. Am selben Ort erkundet die niederländische Trendforscherin Lidewij Edelkoort die Art und Weise, wie eine neue Generation von Designern mit Materialien und Herstellungsverfahren experimentiert.
Ein Höhepunkt des Design-Jahres wurde auf April 2021 verschoben: die große Ausstellung zum Thema „Farbe", die in Zusammenarbeit mit dem Design-Museum im belgischen Gent entsteht.
Streit um Bau auf Güterbahnhof
Der neue Stadtteil Euralille wächst derweil weiter. So setzen die Stadtplaner im heruntergekommenen Nachkriegsviertel Porte de Valenciennes auf „Garteninseln": Hier entstehen 300 Wohneinheiten, davon ein Drittel Sozialwohnungen, aber auch Büros, Schulen, Altersheime inmitten von Grünflächen. Mittendrin steht eine Design-Ikone, die farbenfrohe, sechseckige Jugendherberge „Maison Stéphane Hessel".
Ein Streit entzündet sich an der nahe gelegenen Brache des einstigen Güterbahnhofs. Die Stadt möchte auf den Gleisanlagen Wohnungen bauen. Anwohner und Öko-Initiativen bevorzugen einen Park. „Das ist unser Tempelhofer Feld", spielt Fabrice Veyron-Churlet, Leiter von Euralille SPL, auf den vergleichbaren Konflikt in Berlin an. „Wenn die Wohnungen nicht hier entstehen, müssen wir sie außerhalb der Stadt auf freiem Feld bauen. Das führt wieder zu mehr Autoverkehr", gibt er zu bedenken. Andererseits haben die Park-Befürworter darin recht, dass weitere Grünflächen die Stadt aufwerten. Von den Grabenkämpfen einer attraktiven, erfolgreich wachsenden Stadt bleibt auch Lille nicht verschont.