Die Deutschen sind in der Corona-Krise mehr mit dem Fahrrad gefahren. Vielerorts in den Großstädten hierzulande entstanden sogenannte Pop-up-Radwege. Und die Fahrradhändler erlebten in den Krisenmonaten einen regelrechten Ansturm.
Während des Lockdowns wegen der Corona-Pandemie fuhren bundesweit weniger Autos in den Citys und auf Autobahnen, mehr Menschen waren zu Fuß oder vor allem mit dem Fahrrad unterwegs. Dass in der Corona-Krise der Radverkehr deutlich zugenommen hat, belegen vor allem die Beobachtungen des Zweirad-Industrie-Verbandes (ZIV).
Der Sprecher der Interessenvertretung der Fahrradindustrie, David Eisenberger, spricht von einem regelrechten „Run auf die Fahrradläden". Bereits im April verzeichnete der Handel ein Umsatzplus von 20 bis 30 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, im Mai meldeten Fahrradhändler teilweise bis zu 100 Prozent mehr Umsatz. „Das war definitiv der stärkste Monat, den die Fahrradbranche bisher erlebt hat", bilanziert Eisenberger. Vor allem waren sogenannte Preiseinstiegsmodelle in der Preisspanne von 299 bis 599 Euro stark nachgefragt. Zusätzlich wurden Trekking- und Tourenräder, E-Bikes und Kinderräder am meisten verkauft. „Coronabedingt sind viele Käuferschichten dazugekommen, die den ÖPNV gemieden haben und öfter mal das Auto haben stehen lassen", sagt der Branchenkenner.
Allerdings war die Fahrradbranche auf solch einen unerwarteten Ansturm nicht vorbereitet. Zum einen müssen die Fahrräder teilweise vor Ort im Laden erst komplett zusammengebaut werden – inklusive Sonderwünsche der Kunden. Das führte dazu, dass die Ladenbetreiber Sonderschichten einlegen mussten, um die Wartezeiten für ihre Kunden nicht zu lang werden zu lassen. Zusätzlich führte die ungewohnt hohe Nachfrage dazu, dass in vielen Läden bald schon nicht mehr genügend Fahrräder und entsprechendes Zubehör verfügbar waren und es quer durch die Republik zu Lieferengpässen kam. Diese hängen wiederum mit dem im Februar verhängten Lockdown in China zusammen, durch den die Lieferketten unterbrochen wurden. „Dadurch konnte die Produktionsplanung bei vielen Unternehmen nicht eingehalten und auch noch nicht vollständig wieder aufgeholt werden", erklärt Eisenberger. Mit anderen Worten: Viele Kunden wollten kaufen, mussten aber lange Wartezeiten in Kauf nehmen.
Zeitweise kam es zu Lieferengpässen
Der ZIV-Sprecher blickt vorsichtig optimistisch in die Zukunft: „Vorausgesetzt, es gibt keinen zweiten Shutdown und das fahrradfreundliche Wetter dauert an, sollte die Branche in puncto Marktentwicklung auf dem Vorjahresniveau liegen" – trotz Corona und Lieferengpässen.
Entgegen der Tendenz in den Läden der Großstädte haben die beiden größten Bikesharing-Anbieter zu Beginn der Corona-Krise teils massive Einbrüche verzeichnet. Nextbike hatte eigenen Angaben zufolge nach dem Lockdown im März und April deutschlandweit rund ein Viertel weniger Ausleihen, im Mai allerdings stabilisierten sich die Zahlen wieder. Im Verhältnis dazu gab es bei Nextbike mehr Neuregistrierungen, weil das Fahrrad als Fortbewegungsmittel während des Lockdowns ausdrücklich empfohlen wurde, wie Sprecherin Mareike Rauchhaus vermutet. Seitdem registriert das Unternehmen überall steigende Verleihzahlen. Im Juni zum Beispiel war in Berlin der verleihstärkste Monat seit Start des Systems vor drei Jahren.
Auch der bahneigene Anbieter Call a Bike verzeichnete infolge der Kontaktbeschränkungen und der entsprechend geringeren Mobilität der Bevölkerung zeitweise eine geringere Nachfrage als üblich. Inzwischen hat nach Unternehmensangaben die Nachfrage fast wieder das Vorjahresniveau erreicht. Außerdem stellt man fest, dass beim Bikesharing des Mobilitätsnetzwerks DB Connect die Neuregistrierungen wieder erheblich zunehmen.
Berlin meldet ein Plus von 19 Prozent
Wirft man einen Blick nach Hamburg, Berlin, München und Köln, so lässt sich auch in diesen deutschen Großstädten eine deutliche Zunahme des Radverkehrs durch die Corona-Pandemie messen. In Hamburg ist zurzeit ein stadtweites Radzählnetz im Aufbau, was belastbare Zahlen für die gesamte Stadt noch schwierig macht. Seit 2017 gibt es aber bereits die Zählsäule Gurlittinsel im Bereich der Außenalster, die tragfähige Zahlen liefern kann. Demnach ist der Radverkehr von Ende März bis Ende Mai nicht in dem Maße eingebrochen, wie der Kfz-Verkehr und der ÖPNV. Wie hoch der Anteil der sogenannten Verkehrsvermeider ist, die beispielsweise im Homeoffice gearbeitet haben oder nicht mehr zur Schule, Uni und Kita gefahren sind, ist der Behörde zwar nicht bekannt. „Jedoch ist es wahrscheinlich, dass auch Radfahrer zu dieser Gruppe gehörten und somit Kfz- oder ÖPNV-Nutzer auf das Fahrrad umgestiegen sein müssten. Insofern sehen wir deutliche Hinweise auf Umstiege aufs Fahrrad während der Corona-Krise", sagte Edda Teneyken, Sprecherin der Hamburger Behörde für Verkehr und Mobilitätswende.
Im Vergleich zu den Vorjahresmonaten ist das Aufkommen des Radverkehrs an der genannten Zählsäule im März um knapp zwölf Prozent gestiegen, im April im Vergleich zu 2019 jedoch um knapp elf Prozent zurückgegangen. In den Monaten Mai bis Juni lässt sich keine nennenswerte Abweichung zum Vorjahr feststellen. Unterm Strich lagen die Zahlen des Radverkehrs von Januar bis Juli dieses Jahres auf etwa demselben Niveau wie im gleichen Zeitraum 2019: 1,320 Millionen Radfahrer im vorigen Jahr gegenüber 1,324 Millionen Radfahrer dieses Jahr. Der Radverkehr ist absolut gesehen somit nicht signifikant angestiegen. Allerdings ist der Kfz-Verkehr und die Nutzung des ÖPNV in diesem Zeitraum sehr stark gesunken. Daher deutet dies auf eine Erhöhung des Radverkehrsanteils hin.
Noch deutlicher sind die Zahlen in Berlin, wie Jan Thomsen, Sprecher der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, bestätigt. Die 16 aktiven Fahrradzählstellen haben von Januar bis Ende Juli 2019 rund 9,449 Millionen Velo-Fahrer registriert. Im selben Zeitraum dieses Jahres verzeichneten die Säulen in Berlin 11,217 Millionen Radler – ein Plus von fast 19 Prozent im Vergleich zum vergangenen Jahr. „Über die Gründe wissen wir wenig, plausibel scheint aber, dass das Radfahren als Mobilität mit relativ geringer Ansteckungsgefahr vielen attraktiv schien", sagte Thomsen. Hinzu kam, dass das Wetter häufig warm und trocken war, was das Radfahren ohnehin attraktiv macht. In Berlin entstand Ende März der erste Pop-up-Radweg, eine vorübergehende Radspur auf der Straße am Halleschen Ufer in Kreuzberg. Radfahrer sind auf diesen Radspuren durch aufgestellte Baustellenbaken vom Autoverkehr abgetrennt. „Die Sicherheit von Radfahrenden war der Grund für die Anordnung der Pop-up-Radwegen nach der StVO", erklärt Thomsen. Gut 27 Kilometer dieser temporären Radwege sind angeordnet, rund 25 Kilometer bereits umgesetzt. Weitere Strecken werden derzeit geprüft, etwa in Neukölln, Mitte, Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf. Thomsen geht davon aus, dass bis Ende dieses Jahres zwischen 30 und 50 Kilometer realisiert werden können. Die vorerst nur mit provisorischen Mitteln eingerichteten Pop-up-Lanes sollten eigentlich möglichst in dauerhafte Radfahrstreifen umgewandelt werden. Doch inzwischen gibt es heftige Diskussionen darüber (siehe Infokasten).
Radbranche glaubt an langfristigen Trend
Auch in der Rheinmetropole Köln sind im ersten Halbjahr dieses Jahres nach Auskunft der Stadt Köln neun Prozent mehr Radfahrende als im ersten Halbjahr vorigen Jahres an den Dauerzählstellen gemessen worden. Am 24. Juni wurde an den Zählstellen ein nie dagewesener Spitzenwert von 72.830 Radlern erreicht – der lag knapp zehn Prozent über dem letzten Spitzenwert aus dem Juli 2019, wie Kölns Stadtsprecher Robert Baumanns betont.
In München lagen die Zählwerte bereits im Januar und Februar – wegen des milden und schneearmen Winters in München – um ein Vielfaches über den Werten aus dem vorigen Jahr. Aber selbst im März lagen die Werte trotz massiver Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen weit über denen des Vorjahres. „Im April konnten wir eine Zunahme von circa 20 Prozent an den Dauerzählstellen verzeichnen, obwohl kein Schülerverkehr, Ausbildungsverkehr und normaler Berufsverkehr stattgefunden hat", erklärt Lukas Raffl, Mitarbeiter der Stabsstelle Radverkehr der Landeshauptstadt München. Den Angaben der Münchener Stadtverwaltung zufolge sind in der Isarmetropole fünf neue Pop-up-Radwege eingerichtet worden. Daneben werden auch fortlaufend weitere Projekte zum Radverkehr umgesetzt, darunter etwa Abstellanlagen.
„Allgemein betrachtet sollte die Covid-19-Krise auf jeden Fall eine nachhaltige Wirkung auf die Nutzung des Fahrrads und des E-Bikes haben", blickt ZIV-Pressesprecher David Eisenberger optimistisch in die Zukunft. Wenn von den neuen Käuferschichten ein Viertel längerfristig das Rad als Verkehrsmittel nutze, könne man bereits von einem solchen Effekt sprechen.