Dominic Thiem und Alexander Zverev fochten den ersten Grand-Slam-Sieger einer neuen, „menschelnden" Tennis-Generation aus: gleichauf bei den US Open, bis zur 8:6-Tiebreak-Entscheidung nach fünf Sätzen für Thiem. Bei den French Open treffen die „alten Kumpel" wieder auf unerbittliche Champs im Herbst ihrer Karriere.
Stadt, Land, Fluss": Seit „Domi" und „Sascha" vor sechs Jahren erstmals auf Tennisplätzen gegeneinander antraten, spielen sie das Spiel für variable Schnelldenker miteinander. Irgendwo am Rande des hektischen, weltumspannenden Tenniszirkus. Vorzugsweise auf einer ruhigen Wiese. Eine angenehme Art, die Wartezeit zu überbrücken, während gerade noch andere die gelben Bälle um Spiel, Satz und Sieg schlagen.
Die beiden in Wien und Hamburg geborenen fleißigen Erfolgsstrategen kennen sich in- und auswendig. Auch auf dem Platz. Rivalität um Punkte und dem anderen Triumphe gönnen, greifen bei den 27- und 23-jährigen, unübersehbar fitten Freunden Hand in Hand. Entsprechend tiefenentspannt und zugleich höchst angriffslustig ging Alexander Zverev, deutsche Tennis-Nummer eins, in sein erstes Finale bei einem Grand Slam. Ausgerechnet gegen Thiem, dem er zuvor schon versichert hatte, dass der Österreicher eigentlich an der Reihe wäre, hier zu gewinnen: im Big Apple, mit der coronabedingten Bubble. In dieser nervenzermürbenden Abgeschiedenheit von Ablenkungen und aufmunternden Zuschauern, inmitten der Weltmetropole. Per Leinwand-Screens waren ein paar euphorische Gesichter als virtuelle Resonanz-Kulisse bei den Matches zugeschaltet. Passende Fan-Geräusche errechnete IBM Watsons Künstliche Intelligenz für „AI Sounds" aufgrund ähnlicher Situationen mit Vor-Ort-Zuschauern bei den US Open 2019. Erfahrungen, wie ein adäquater Geräusch-Hintergrund erstellt wird, hatte die Künstliche Intelligenz in vergangenen Jahren gesammelt, als sie Match-Videos der Reihe „AI Highlights" für die Turnier-App mitproduzierte. Immer wieder motivierten auch die Daheimgebliebenen ihre jeweiligen Brüder Domi und Sascha über Live-Videobildschirme. Mischa Zverev aß seinem zweijährigen Sohn die Geburtstagstorte weg, während er Matches von und für Sascha analysierte. Moritz Thiem versprach seinem Bruder nach gewonnenem Finale: „Ich schau’ jetzt mal, ob alle noch leben." Womit er die Mehrgenerationen-Familie Thiem meinte. – „Tu das. Wenn ich wieder zu Hause bin, werden wir richtig, richtig feiern", antwortete der frisch gekürte US-Open-Sieger Dominic.
Das war’s dann auch schon mit der Kuschelatmosphäre für zwei junge Spieler, die bisher immer von Familienmitgliedern begleitet wurden. Seit die Jungs im Grundschulalter waren. Noch bevor sie sich kennlernten und seither beste Freunde sind. Die bei den US Open 2020 Sushi mit Stäbchen futterten, während sie dem Kumpel auf dem Weg ins Finale von der Tribünen-Suite aus live die Daumen drückten. „Ich wünschte, wir könnten diesen Titel teilen. Deine Eltern daheim sind zu Recht stolz auf Dich", sagte „Domi", nachdem die Freunde einsam im eigentlich 20.000 Zuschauer fassenden Stadion mehr als vier Stunden um ihren ersten Grand-Slam-Titel gefochten hatten.
„Ich wünschte, wir könnten diesen Titel teilen"
Die ersten zwei Sätze gingen dabei klar an den Jüngeren, der im dritten Satz das vorentscheidende Break um eine Wimpernbreite des Ball-Auftreffens verpasste. Dieses Ereignis löste den Druck von Thiem, in seinem vierten Majors-Finale endlich den Pokal zu stemmen. Zverev gab nachfolgend sein Aufschlagspiel und den dritten Satz ab. Dabei hätte Satz drei ihm den größten Titel seiner Karriere beschert. Der erste in den 1990er-Jahren geborene US-Open-Champion hieß so am Ende nicht Zverev, sondern Thiem. Denn Dominic wirkte ab Satz drei ähnlich verwandelt wie zwei Tage zuvor sein Freund Sascha im Halbfinale. Der hatte nach zwei inaktiven Runden gegen Pablo Carreño Busta den Schalter umgelegt, den gefährlichen Spanier ermüdet und die nächsten drei Sätze geholt. Dieser späte Angriff zeigte eine Grand-Slam-Strategie, die bei diesen US Open auch schon Andy Murray, Serena Williams (erste Runde gegen Kristie Ahn) und Victoria Azarenka erfolgreich praktiziert hatten: ein bis zwei Sätze kaum präsent, danach verwandelt und aufgedreht, mit letztlich gewonnenen Matches.
Zurück zum Finale der zwei Freunde: Gegen Dominic Thiem drehte der gebürtige Hamburger Zverev seine Taktik um und focht gleich in den ersten zwei Sätzen engagiert und variantenreich gegen seinen langjährigen Tour-Kumpel. Dann kam der dritte Satz, der die Szenerie wendete. Der vierte Satz ging ebenfalls an den Österreicher Thiem. Im fünften Satz bremsten Zverev dann Krämpfe, als er beim Stand von 5:2 und 30:30 nur noch zwei erfolgreich gespielte Punkte bis zu seinem ersten Grand-Slam-Titel hätte durchhalten müssen. Freund Domi plagten zeitgleich Aduktoren-Probleme: Also blieb alles ausgewogen, ablesbar am 6:6-Gleichstand und nachfolgender Tiebreak-Entscheidung im fünften Satz. Der ersten in einem US-Open-Fünfsatz-Finale überhaupt. „Ich wünschte, Dir wären mehr Bälle entgangen, sodass ich die Trophäe hätte halten können", witzelte Zverev, der seinen Freund Dominic kurz herzlich umarmt hatte, bei der Siegerehrung. Tränen hinderten ihn zunächst daran, noch viel zu sagen. Zu viele Emotionen stürmten auf den 23-Jährigen ein. Doch er spornte den 27-Jährigen für weitere Triumphe an: „Das ist der erste von vielen großartigen Grand-Slam-Titeln." Thiem postete später in den sozialen Medien: „Dieses Match verdient wirklich mehr als einen Champion, und ich bin sicher, Alexander Zverev, dass Du diese Trophäe auch eines Tages heben wirst. Danke, dass Du so ein großartiger Rivale bist und noch mehr dafür, dass Du ein wahrer Freund auf der Tour bist." Den durchaus teilbaren Grund zur Freude der Freunde in einem ausgeglichenen Match sprachen auch Grand-Slam-Legenden an: „Domi Thiem hat gewonnen, aber Alexander Zverev hat nicht verloren", kommentierte der Australier Rod Laver die atemberaubende Partie, die zeitweise über eine Million Zuschauer auf Eurosport um einen großen Teil ihres Nachtschlafs brachte.
Zverev führte im entscheidenden Satz bereits mit 5:2
Vielleicht auch die „Großen Drei", die nicht (mehr) in New York dabei waren: Sehr früh im September reiste Rafael Nadal zu den Sandplätzen der großen europäischen Events, um nach achtmonatiger Turnierpause wieder in den Wettkampf-Modus zu kommen. Rom mit 15 gemeldeten Top-20-Spielern und Paris im zunächst angenehm warmen Spätsommer: Es gibt unangenehmere Arbeitsorte. Zumal bei den French Open unterm Eiffelturm, auf der engsten Anlage der weltweit vier Best-of-Five-Turniere, erstmals seit Corona wieder Zuschauer zugelassen sind.
Eine Sektoren-Einteilung sowie Abstände für die Fans, außerdem häufige Tests und Stay-at-Hotel-Pflicht für die Spieler sollen der Pandemie-Hygiene dienen. Nicht nur ein paar, sondern jeweils 5.000 Fans dürfen auf festen Sitzplätzen in den großen Arenen mitfiebern, wenn ihnen aktuelle Corona-Regelungen keinen Strich durch die hohe Ticketpreis-Rechnung machen.
Unangenehmes Herbstwetter muss draußen bleiben: Neue, bewegliche Stadiondächer sollen Fans und Spieler vor Regenepisoden schützen. Pfützen, die sich aus dem Schweiß der Profis auf den Courts bilden, dürften in der legendären Asche von Paris zwischen dem 27. September und dem 11. Oktober auch seltener vorkommen als auf den heißen und heuer überraschend rutschigen Hardcourts von New York.
French Open vom 27. September bis zum 11. Oktober
Wer genau hinsieht, ob vor Ort oder via Eurosport, wird dennoch mitbekommen, wie der zwölfmalige Sandplatz-König von Paris, der Spanier Nadal, ins Schwitzen kommt. Eine ungewohnte Kraftanstrengung wartet auf den 34-Jährigen, zu einer Zeit, in der die Saison der Tennisprofis in anderen Jahren nach den US Open schon weitgehend gelaufen ist. Statt im Frühsommer greift die nächste Generation junger Profis, die in den 1990er-Jahren und später geboren ist, die reifen Granden im Herbst auf dem Untergrund der Tenniszauberer an. Dass speziell die Nummer drei – Thiem – und die Nummer sieben – Zverev – der Weltrangliste mit den kräftezehrenden und mental fordernden Fünf-Satz-Matches kein Problem mehr haben, zeigten sie in New York. Da beide auf das Masters in Rom verzichteten, sollten sie gegenüber den 15 Top-20-Spielern, die beim 1000er-Masters dabei sein wollten, für Paris wieder frisch sein. Wenn auch noch nicht auf Sandplatz-Spitzenturniere umgestellt.
Fokussiert auf Asche müsste Novak Djokovic sein, der nach seiner Disqualifikation im Achtelfinale der US Open mehr Zeit für Sand hatte. In Rom erklärte die Nummer eins der Welt, dass er nicht garantieren könne, dass so etwas wie in New York nicht noch einmal passiere. Wütend über einen vertanen Satzgewinn hatte der Serbe einen Ball nach hinten geschlagen und eine Linienrichterin am Kehlkopf getroffen. Immerhin: Bemühen will sich der 17-fache Grand-Slam-Sieger, dem wegen „unsportlichen Verhaltens" ein Aufschließen zu Nadals 19 Titeln verwehrt wurde. Bei den French-Open geht das Duell zwischen „Nole" und „Rafa" weiter. Sicher nicht als beste Freunde. Nicht zu vergessen: Vorjahres-Finalist Thiem geht mental gestärkt ins Spiel. Und vielleicht zieht er Kumpel Sascha mit in die letzten Runden. In Paris, in Frankreich, an der Seine.