Anton Hofreiter ist seit 2005 im Bundestag und seit 2013 Co-Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen. Anfang September traf er sich mit Jugendlichen zur Diskussion. Ihnen ist der 50-Jährige tendenziell zu kompromissbereit.
Was macht ein Politiker eigentlich den ganzen Tag?", will Anna wissen. Anna ist 18 und organisiert ein coronakonformes Freiluftgespräch mit einem Dutzend Jugendlichen und dem grünen Schwergewicht Anton Hofreiter. Man trifft sich im „Gleisbeet" der Berliner Naturfreundejugend an der Warschauer Straße in Berlin, wo Bio-Gemeinschaftsgärten das alte Gleisgelände wiederbeleben. Vermutlich weiß sie schon ganz gut, was ein Politiker so macht. Aber zur Auflockerung ist so eine Frage immer gut.
Ungewollt unbedarft orientiert sich Hofreiter, gerade mit dem Fahrrad angedüst, erst einmal: „Was ist heute für ein Wochentag?" Wer das nun für ein Zeichen von politischer Verträumtheit halten würde, läge falsch. Hofreiter macht zwar optisch mit seinem schulterlangen blonden Haar durchaus den Eindruck eines Träumers aus grünen Urzeiten. Was „der Toni" aber sagt, ist eher radikal realistisch. Er ist zwar auch kein Ober-Realo, aber diese Begriffe sind bei den Grünen heute ohnehin sinnlos geworden. Der Wille zur Macht ist derzeit allgemeines Partei-Markenzeichen. Bei Inhalten gibt es durchaus noch Differenzen, in dieser Frage aber nicht.
„Der Toni", wie der 50-jährige Bayer von seinen Parteifreunden genannt wird, hat viel zu tun, wie er glaubwürdig darlegt. Als einer von zwei Fraktionschefs der Grünen ist er zuständig für alle möglichen Themen querbeet, von Antirassismus bis Verkehr. „Also eigentlich alles" lautet denn auch der Zwischenruf – nein, eben nur die Hälfte von allem. Die andere Hälfte macht die Co-Chefin der Fraktion. Was auch immer dann noch übrig bleibt.
Hofreiter ist ein waschechter Grüner, ein Naturmensch, hat als Fachbotaniker im Regenwald gearbeitet und ist seit 30 Jahren bei den Grünen politisch aktiv, ein Überzeugungstäter. Hört man ihn, wird klar, wie selbstbewusst die Grünen auf „ihre" Erfolge der vergangenen Jahre und Jahrzehnte blicken können. Wobei, es waren nicht die Partei und ihre Arbeit in den Parlamenten alleine: „Ohne Euch, ohne den außerparlamentarischen Druck hätten wir in den Parlamenten lange nicht so viel erreicht. Wir brauchen Euch", schmeichelt Hofreiter seinen jungen Zuhörern.
„Wir brauchen Euch", sagt „der Toni"
Erreicht haben die Grünen vor allem einen Bewusstseinswandel: „Der Diskurs hat sich in wenigen Jahren gigantisch verändert", sagt er. „Man muss sich mal klar werden, was sich alles verändert hat." Noch 2017 habe die Bundeskanzlerin über den Kohleausstieg von einem „grünen Kampfbegriff" gesprochen – jetzt ist er einfach mal beschlossen. Wenn das kein Erfolg ist. Muss man da überhaupt noch an die Regierung? Natürlich will Hofreiter an die Macht, denn, bei allem Fortschritt, er misstraut denen, die jetzt an der Regierung sind: „Die wollen ja eigentlich was anderes." Da sei zwischen Union und SPD kein großer Unterschied, etwa bei der Kohlefrage. So viel zum Thema Koalitionsaussage.
Ein Fahrradfahrer mit blondiertem Haar braust auf dem Sportrad durch die lockere Sitzgruppe und spuckt seine Meinung aus, und die ist eindeutig: „Vollidioten!" Den Meinungsbeitrag wollte er unbedingt noch loswerden, denn er war vorher schon mal vorbeispaziert und hatte sich offensichtlich argumentativ vorbereitet. Hofreiter kontert kühl: „Das war ja ein freundlicher Herr." Mehr Emotion ist nicht drin, so wie der Toni generell nicht viel lacht. Er lacht einfach nicht, lächelt auch nicht, jedenfalls heute Abend nicht. Er ist auch kein guter Redner, er überlegt seine Sätze, die geraten meist etwas hölzern und kommen eher langsam, das „R" rollt bayrisch-rustikal. Irgendwie bleibt dabei beim Zuhörer das Gefühl, er meint es wirklich so, wie er es sagt, und es ist ihm ernst.
Die Frage musste kommen: Wahlalter auf 16 absenken? Klar, das ist ein Heimspiel, alle finden es gut. Man könnte auch bis 14 gehen oder noch weiter. Man könnte allen Menschen ab der Geburt ein Wahlrecht geben, einschließlich Kindern –
was faktisch ein Doppelt- oder Dreifachwahlrecht für Eltern bedeutet. Sicher, bei den Jugendlichen hier ist das keine Frage, die sind aufgeweckt und politisiert und wissen mehr als viele Erwachsene. Aber sind sie auch repräsentativ?
Die Frage von Jonathan, 16, geht ins Grundsätzliche: „Warum wollt ihr unbedingt, dass der Wohlstand nicht angetastet wird? Viele Dinge heute machen mein Leben doch gar nicht besser. Funktioniert denn das mit dem Kapitalismus überhaupt noch, dass man den grün macht, oder muss man nicht mal das System mit dem ständigen Wirtschaftswachstum infrage stellen?" Das ist die alte zentrale Frage der Grünen, der Hofreiter schlicht ausweicht: Die Frage stelle sich ja gar nicht mehr: aus Zeitmangel. „Wir haben nur noch zehn, 15 Jahre Zeit. Da müssen wir so schnell wie möglich Erfolge erzielen." Die Bedrohung durch den Klimawandel und das Artensterben sind so dramatisch, dass keine Zeit mehr bleibt für große Gesellschaftsfragen. Es geht um die Umsetzung von dem, was die (Klima-)Wissenschaft fordert. „Jetzt müssen wir erst mal unsere Lebensgrundlagen retten. Mit Strahlengesetzen kann man nicht verhandeln."
Wirtschaftswachstum infrage stellen?
Das sehen die Jugendlichen eigentlich genauso, sind sogar der Meinung, dass alles noch zu langsam läuft. Ein junger Mann will schneller weg von Kohle, Öl und Gas. Schon in 15 Jahren. Würde Hofreiter das im Bundestag unterstützen? Der junge Mann droht damit, dass es ja noch andere, radikalere Klimaparteien gibt, die man doch auch noch wählen könne.
Da fordert Hofreiter von den Jugendlichen Realismus: Es mangele schlicht an den Produktionskapazitäten für klimafreundliche Anlagen, um noch schneller umzusteigen. Er wird jetzt doch noch emotional, und haut förmlich auf den (nicht vorhandenen) Tisch: „Ich hab die Schnauze voll von den ganzen Forderungen und Versprechungen. Wir müssen einfach mal anfangen!" Das sei sein Wunsch an die Klimagerechtigkeitsbewegung. Klimaziele gebe es jetzt genug und das Ziel von Paris, dem UN-Klimavertrag, das gelte es jetzt umzusetzen.
Hofreiter meint, er muss die Jugendlichen bremsen, denn Deutschland allein kann die Welt ja nicht retten: Es geht ja vor allem um die „Vorbildwirkung". „Es muss bei uns klappen, ohne den Wohlstand und die Arbeitsplätze zu gefährden. Nur dann ist das Modell Deutschland so attraktiv, dass es auch Nachahmer findet."
Dann ist es manchmal so, dass man das Gefühl hat, Hofreiters Forderungen hat man schon mal gehört, aus der CDU oder der EU-Kommission oder sonst wo. Er will „in eine Art von Kreislaufwirtschaft einsteigen". Gibt es nicht schon seit den 90er Jahren ein Kreislaufwirtschaftsgesetz? Das Thema ist doch Konsens zwischen Berlin, Brüssel –
was fordert er da? Es geht zum Beispiel um „echt verrottbares Plastik", also nicht nur unter künstlichen Bedingungen. Das klingt nicht sehr revolutionär, dafür wären alle schnell zu gewinnen.
Was würden die Grünen wirklich anders machen, wenn sie an der Macht wären? Er macht den Jugendlichen Hoffnung, dass es auch ohne Systemwechsel besser werden kann: „Eine keynesianisch regulierte Marktwirtschaft ist etwas völlig anderes als eine neoliberal regulierte." Da könne man noch mal nachhaken. Was er damit genau meint und ob der Ökonom John Maynard Keynes wirklich ein guter Kronzeuge ist für eine „sozialökologische Transformation" hin zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft?
Am Ende fordert eine junge Frau „mehr Tacheles". „Wenn du sagst, die Macht steckt im Wahlzettel, dann finde ich das gefährlich." Ihr Plädoyer, das ihr selbst am Ende viel zu lange gerät, endet mit dem starken Spruch: „Wenn der Wahlzettel die größte Macht ist, dann Gnade uns Gott." Da weiß auch Toni Hofreiter keine rechte Antwort. Vielleicht würde er gern zugeben, dass sie irgendwie Recht hat.