Trump nutzt das Verfassungsgericht für seine konservative Agenda
In den letzten Monaten wurden die USA von einer Serie politischer Erdbeben erschüttert. Corona-Pandemie, Wirtschaftseinbruch, das verheerende Krisenmanagement von Präsident Donald Trump, Rassismus und sozialer Aufruhr sowie desaströse Waldbrände. All dies hat das Ansehen von Trump massiv beschädigt. In den Umfragen lag er beständig hinter seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden.
Doch nun könnte sich die politische Dynamik drehen. Der Streit um die Nachfolge der verstorbenen liberalen Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg hat Trump eine Arena beschert, in der er sich bestens auskennt: den Kulturkampf um Werte. Gelingt es dem Präsidenten, seine Kandidatin noch vor der Wahl am 3. November vom Senat bestätigen zu lassen, hätten die Konservativen im Supreme Court eine 6:3-Mehrheit. Der Senat wird von Trumps Republikanern dominiert. Da die Richter auf Lebenszeit ernannt werden, würde womöglich über Jahrzehnte eine konservative Mehrheit im Gericht zementiert.
Die Personalie gibt Trump die Möglichkeit, voll auf Polarisierung zu setzen. Er kann ein großes Ablenkungsmanöver starten: Seine desaströse Corona-Bilanz mit mehr als 200.000 Toten war gestern. Heute und morgen befeuert der Präsident Themen, die seine Basis elektrisieren und in die Wahllokale treiben.
An erster Stelle steht das von den Republikanern – vor allem den evangelikalen Christen – geforderte Abtreibungsverbot. Das Verfassungsgericht hatte 1973 im Roe-gegen-Wade-Urteil festgelegt, dass der Schwangerschaftsabbruch weitgehend straffrei ist. Für die Demokraten war dies ein Durchbruch auf dem Weg zu einem sozialpolitisch progressiven Amerika, ein Quantensprung für die Selbstbestimmung der Frauen.
Die Konservativen betrachteten „Roe versus Wade" hingegen als Sündenfall, der korrigiert werden muss. Seit vielen Jahren stürmen radikale Anhänger der „Pro-Life"-Bewegung Abtreibungskliniken, bedrohen Ärzte und zerstören Praxen. Ihr Traum: Das Verfassungsgericht soll die Grundsatzentscheidung von 1973 kippen. Die Nachfolge der Frauenrechts-Ikone Ruth Bader Ginsburg ist für sie Teil eines gesellschaftlichen Streits, der den Charakter eines Kulturkrieges hat.
Die Vereinigten Staaten sind heute gespalten wie nie zuvor. Die Trennlinien zwischen Republikanern und Demokraten verlaufen entlang von ideologisch aufgeladenen Fragen wie Abtreibung, Einwanderung, Waffenrecht, Homo-Ehe, Rassismus oder der Anspruch auf eine Krankenversicherung für alle.
Die Gesundheitsversorgung ist ein politisches Symbolthema, bei dem sich beide Parteien ineinander verbeißen. Unter Präsident Barack Obama setzten die Demokraten die Krankenversicherung für viele Millionen Amerikaner ohne Schutz durch („Obamacare"). Private Gesellschaften dürfen niemanden mehr wegen Vorerkrankungen ausschließen oder schlechter behandeln. Damit die Aufnahme vieler chronisch Kranker bezahlbar ist, wurden alle US-Bürger verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen. Viele Gesunde taten das vorher nicht. Gegen diesen Zwang liefen rechte Kritiker Sturm.
Nun soll die Kontroverse höchstrichterlich entschieden werden. Eine Woche nach der Präsidentenwahl ist am Supreme Court eine Anhörung angesetzt. Das republikanisch geführte Texas will mit Rückendeckung der Trump-Regierung geltend machen, dass die Voraussetzungen für die Verfassungsmäßigkeit von „Obamacare" nicht mehr gegeben seien. Bei einer 6:3-Mehrheit für die Konservativen stehen die Chancen für dieses Unterfangen gut.
Biden versucht nun, aus der Not eine Tugend zu machen. Er warnt die Amerikaner, dass die Republikaner in der Corona-Pandemie das Gesundheitswesen zerstören wollten. Würde der Präsident Ginsburg durch eine konservative Richterin ersetzen, dann wären viele Millionen US-Bürger mit Vorerkrankungen bald vom Krankenversicherungsschutz abgeschnitten. Auf diese Weise hofft er, das Corona-Thema und damit das Versagen der Regierung wieder in die öffentliche Debatte zu katapultieren.
Unabhängig davon, ob Trump seine Richter-Kandidatin vor der Wahl am 3. November oder vor der Vereidigung des neuen Präsidenten am 20. Januar 2021 durchbringt: Angesichts der tiefen politischen Gräben im Kongress werden wohl immer mehr Gesetzesvorlagen vor dem Supreme Court landen. Amerikas Kulturkrieg dürfte noch heftiger werden.