Die in Köln lebende US-Amerikanerin Tracie Frank Mayer ist bekannt geworden durch ihr Buch „Einen Herzschlag entfernt". Im Interview spricht sie über den Rassismus in ihrem Heimatland und darüber, wie sie die Proteste der dunkelhäutigen Bevölkerung in den USA und Deutschland erlebte.
Ihr Sohn wurde mit einem schweren Herzfehler geboren. Die Ärzte räumten ihm keine Chance ein, er sei „unvereinbar mit der Natur". Über ihren scheinbar aussichtslosen Kampf ums Überleben ihres Kindes hat die Amerikanerin Tracie Frank Mayer ein bemerkenswertes Buch geschrieben. Sie appelliert darin an Mediziner, mehr Menschlichkeit zu wagen, ihre Leser ermutigt sie, stets die Hoffnung zu bewahren. Über ihre außergewöhnliche Geschichte wollte ich mit der Autorin eigentlich am Rande eines Kardiologenkongresses in New York sprechen. Stattdessen, coronabedingt, per Skype. Zwei Themen bewegen gerade die ganze Welt: Pandemie und Proteste. Und so wird es kein Gespräch über Tracies Buch, sondern über das aktuelle Zeitgeschehen.
Mich interessiert, wie eine Kämpferin, die zu keinem Zeitpunkt bereit war, sich einem nahezu ausweglosen Schicksal zu fügen, die aktuellen Ereignisse einschätzt.
Tracie, die zentrale Botschaft Ihres Buches ist …
Niemals aufgeben! Punkt. Aus. Egal was passiert, weitermachen! Keiner weiß, was die Zukunft bereithält. Auch wenn es heute schlecht aussieht, kann morgen vielleicht doch noch ein Wunder geschehen. Wer aufgibt, hat schon verloren.
Man muss mutig sein in seinen Überzeugungen und überzeugt sein von seinem eigenen Mut, sagen Sie. Für seine Überzeugungen zu kämpfen lohnt sich, ja, es kann sogar Leben retten.
So ist es. Das passt auch gerade perfekt zu der „Black Lives Matter"-Bewegung. Diese Menschen glauben fest an ihre Sache. Sie wissen, was sie wollen. Und sie müssen mutig sein. Manchmal glaubt niemand an dich, umso mehr musst du dann an dich selbst glauben. Um unser höchstes Potenzial im Leben zu erreichen, müssen wir Kämpfer sein. Charakter entwickelt man in schwierigen Zeiten.
Sie waren bei einer „Black Lives Matter"-Demo in Köln dabei. Wie war das für Sie? Wie geht es Ihnen in diesen Tagen und Wochen mit allem, was gerade passiert?
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich in all den Jahren in Deutschland wegen meiner Hautfarbe nie etwas Schlimmes erlebt habe. Leute haben mich schon mal schräg angeschaut, aber das mag auch an meinem auffälligen Kleidungsstil gelegen haben. Vielleicht hatte ich Glück, weil ich mit einem deutschen Geschäftsmann verheiratet war und ein bequemes, behütetes Leben führte. Mein Mann genoss ein gewisses Ansehen, und vielleicht hat sich das automatisch auf mich übertragen. Aber sogar heute muss ich ehrlich sagen, dass ich hier in Köln keine Probleme habe.
Und früher in Amerika?
Meine Schwester und ich besuchten eine Privatschule, meine Eltern waren wohlhabend. Mein Vater fuhr einen Rolls-Royce. Er wurde mehrfach von der Polizei angehalten, weil sie dachten: Was hat ein Schwarzer in so einer Luxuskarosse zu suchen?
Einmal wurde auch unser Haus von der Polizei gestürmt, weil Diebesgut darin vermutet wurde. Hinterher wurde behauptet, es sei eine Verwechslung gewesen. Rassismus ist natürlich nichts Neues. Das Neue ist, dass jetzt alles gefilmt wird. Gott sei Dank! Und was natürlich auch eine große Rolle spielt, ist, dass Donald Trump an der Macht ist.
Rassismus ist nichts Neues. Polizeigewalt auch nicht. Die Liste der schwarzen Opfer ist lang. 2014 starb Eric Garner im Würgegriff eines Polizisten. Wie George Floyd, rief auch er damals „I can’t breathe". Aber erst jetzt, sechs Jahre später, demonstriert man auf der ganzen Welt. Warum ist das so? Und warum ist das Interesse auch in Deutschland so groß?
In Deutschland könnte ich mir vorstellen, dass es etwas mit Geschichtsbewusstsein zu tun hat. Vielleicht. Aber ich denke auch, dass 2014 einfach nicht so viele Menschen das Video von Eric Garners gewaltsamer Festnahme gesehen haben. Das Video von George Floyd hat jeder gesehen, und ich hoffe, dass es die Welt verändern wird.
Es ist etwas in Bewegung geraten. 2014 war Barack Obama noch Präsident, man hat sich vielleicht erhofft, dass in seiner Amtszeit mehr für die schwarzen
Bürger getan wird. Jetzt haben viele Leute wirklich genug.
Ja, genau. Jetzt muss sich etwas ändern. Was Obama angeht, so kann ein Präsident allein nicht ändern, was sich über Jahrhunderte lang entwickelt hat. Aber ich bin mir sicher, dass es nicht zu einer solchen Eskalation gekommen wäre, wenn er noch im Amt wäre. Immerhin wird jetzt ernsthaft über eine Polizeireform diskutiert. Gott sei Dank!
Erklären Sie bitte den Slogan „Defund the Police". Es gibt Menschen, die irritiert sind und sich fragen, weshalb man ausgerechnet jetzt der Polizei Finanzmittel entziehen sollte? Wäre es nicht sinnvoller, in sie zu investieren, umzuerziehen, auf Deeskalation zu trainieren, weg von der Gewalt?
Der Slogan „Defund the Police" steht für weitreichende Polizeireformen. Wie ich es verstehe, geht es den Aktivisten um eine Umverteilung, Umstrukturierung. Sie möchten einen Teil der Polizeimittel in Präventionsarbeit stecken.
Sie kritisieren, dass in den USA häufig schlecht ausgebildete Polizisten eingesetzt werden für Arbeit, die eigentlich von Sozialarbeitern, Lehrern und Therapeuten gemacht werden sollte. Polizisten müssen neu trainiert werden und umdenken lernen.
Neben „Black Lives Matter" sah man für kurze Zeit auch „All Lives Matter". Heidi Klum zum Beispiel hat diesen Slogan benutzt. Aus ihrer Ehe mit Ex-Mann Seal gingen drei Kinder hervor. Sie hat ein Foto von den schwarzen und weißen Händen ihrer bunten Familie auf Instagram gepostet und „All Lives Matter" daruntergeschrieben. Dafür wurde sie heftig kritisiert. Können Sie erklären, weshalb das so kontrovers ist? Auf den ersten Blick sollte man meinen, es drückt Solidarität aus, wenn jemand sagt: „Jedes Leben zählt!"
Ich verstehe sehr gut, weshalb Heidi Klum für ihren Post kritisiert wurde. Jeder weiß, dass jedes Menschenleben zählt. Das ist doch klar. Aber nicht jeder weiß, dass jedes schwarze Leben zählt. Die Leute müssen verstehen, dass die Geschichte der schwarzen Amerikaner eine Geschichte von Menschen zweiter Klasse ist, dass wir nie akzeptiert wurden als ebenbürtig. Und diese Ungleichheit besteht bis heute.
Das sieht man auch gerade in Bezug auf Corona. CNN hat Menschen in ganz Amerika gefragt, ob sie jemanden persönlich kennen, der an dem Virus verstorben ist. Bei den Weißen waren es neun Prozent, bei den Schwarzen 31 Prozent.
Ja, ist das nicht traurig? Schwarz und Weiß, das sind verschiedene Welten. Es gelten andere Regeln für uns als für Weiße. Das ist nun einmal die Wahrheit. Und jetzt müssen alle ihre Stimmen erheben und mit einer Stimme sagen: Schwarze Leben zählen. Wir verdienen auch einen Platz am Tisch.
Sie kommen ursprünglich aus Seattle. Ist Rassismus in Amerika anders als in Deutschland?
Das Interessante ist, dass in Seattle viel mehr Weiße demonstrieren als Schwarze. Ich telefoniere jeden Tag mit meiner Schwester. Sie sagt, so etwas habe sie noch nie gesehen. Amerika steht in Flammen. Es gibt Plünderungen. Randalierer mischen sich unter die friedlichen Demonstranten. Es ist eine andere Mentalität.
Vor Kurzem gab es einen Facebook-Chat mit dem Titel „George Floyd – Warum macht die Welt ihn zum Helden?" Es wurde darüber diskutiert, dass er ein Straftäter war. Richtig, aber es ist mir egal, was er getan hat: Kein Tier verdient es, so zu sterben. Eigentlich wollte ich mich an der Diskussion beteiligen, aber als ich die Kommentare gelesen habe, dachte ich, nein, mit diesen Leuten möchte ich nicht meine Zeit verschwenden. Manche Menschen sind einfach engstirnig und engherzig, dabei sollte man flexibel und verständnisvoll sein. Ich habe dieses Tik-Tok-Video von einem 15-jährigen Schwarzen gesehen. Er spricht von einer Liste, die seine Mutter ihm zusammengestellt hat, mit Punkten, die er beachten soll, wenn er das Haus verlässt. Am Ende sagt der Junge: „Ich kann nicht einfach ‚Bis später!‘ zu meinen Freunden sagen, weil ich nicht weiß, ob ich später noch am Leben bin." Das ist die Realität für schwarze Menschen in Amerika. Seit 401 Jahren!
Es gibt den „Talk", ein Aufklärungsgespräch, das alle schwarzen Eltern mit ihren Kindern führen. Dabei geht es um Verhaltensregeln für ein Zusammentreffen mit der Polizei. Die Eltern macht es traurig und wütend, ihre Kinder auf etwas vorbereiten zu müssen, wofür sie nichts können – ihre Hautfarbe. Weiße Familien brauchen dieses Gespräch nicht zu führen.
Ja. Wie traurig ist das? George Floyd hat sich bei seiner Festnahme nicht gewehrt. Er hat gefleht: „Sir, ich kann nicht atmen." Sir … er hat „Sir" gesagt. Aber es geht am Ende immer darum, wer die Kontrolle hat, und das sind die Weißen, Menschen mit Macht und Geld. Seit Jahrhunderten. Thomas Jefferson, George Washington … sie alle hatten Sklaven. Man darf nicht vergessen, dass vor noch nicht allzu langer Zeit Schwarze und Weiße nicht dieselben Toiletten benutzen durften, nicht am selben Tisch miteinander sitzen konnten und Schwarze im Bus hinten Platz nehmen mussten. Aber was gibt es für mutige Menschen in unserer Geschichte. Martin Luther King war erst 36 Jahre alt, als er erschossen wurde. Und Rosa Parks, die Mutige! Sie hat den Bus-Boykott von Montgomery ausgelöst, als sie sich weigerte, ihren Sitzplatz zu räumen. Das war der Anfang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Wir sind schon weit gekommen, aber wir haben noch einen sehr weiten Weg vor uns. Jetzt hat das Pentagon zugestimmt, Kasernen umzubenennen, welche die Namen von Konföderierten-Generälen tragen. Aber Mr. Trump sagt: „Nein!" Er hat die Macht, und wenn du jemanden an der Macht hast mit solchem Gedankengut, dann … na ja. Aber: That’s democracy!
Vielleicht ändert sich etwas im November. Was muss jetzt geschehen?
Wir müssen jetzt alle zusammenhalten. Die Weißen müssen mitmachen, damit Recht und Ordnung in den Herzen entstehen. Es kann so nicht mehr weitergehen. Auch mein Onkel Quincy Jones hat zu einer Online-Aktion aufgerufen, an der sich viele Promis beteiligen.
Meinen Sie, Trump wird ein zweites Mal gewählt?
Ich hoffe nicht! Er ist herzlos und nicht empathiefähig. Ich weiß nicht, was passieren wird. Das Wichtigste ist, dass wir alle, wirklich alle, im November wählen gehen!