Eigentlich sollten Medikamenten-Hilfsstoffe inaktiv und reaktionsarm sein. Eine neue US-Studie weckt diesbezüglich für 38 Substanzen erhebliche Zweifel. Und auch Unverträglichkeiten mancher Zusatzstoffe werden zunehmend wissenschaftlich diskutiert.
Apotheker oder Ärzte wissen natürlich darüber Bescheid, dass der in Medikamenten enthaltene Anteil der Hilfsstoffe mengenmäßig meist weit höher ist als derjenige der Wirkstoffe. Dem Verbraucher oder dem Patienten dürfte das weniger bewusst sein. Im Beipackzettel werden zwar die Zusatzstoffe aufgelistet, „ihre mengenmäßig exakte Zusammensetzung ist jedoch Firmengeheimnis und je nach Präparat unterschiedlich", so der Berliner Apotheker Maximilan Wilke gegenüber der „Apotheken Umschau". Wilkes Verdienst war es denn auch, eine 2019 mit dem Deutschen Apothekenpreis ausgezeichnete Suchmaschine namens Whatsinmymeds entwickelt zu haben, die Auskunft über die genaue Hilfsstoff-Zusammensetzung von Arzneimittel gibt, was vor allem für Allergiker von elementarem Nutzen ist.
Wie dringend das Problem ist, konnte aus einer im März 2019 im Fachmagazin „Science Translational Medicine" veröffentlichten Studie abgelesen werden, die von Gastroenterologen des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge rund um den gebürtigen Schweizer Dr. Daniel Reker erarbeitet wurde. Die Wissenschaftler hatten mithilfe zweier großer Arzneimitteldatenbanken die gebräuchlichsten in den USA vermarkteten Medikamente auf Zusatzstoffe überprüft, die den Angaben zufolge in medizinischen Fachveröffentlichungen für Allergien oder Unverträglichkeiten verantwortlich sein konnten. Ergebnis: 92,8 Prozent aller in den USA verkauften Arzneimittel enthielten zumindest einen potenziell allergieauslösenden Zusatzstoff wie Laktose (in 45 Prozent der US-Medikamente enthalten), spezielle Zucker (55 Prozent sogenannter FODMAP-Zucker, das sind fermentierbare Saccharide und Polyole wie Fructose), Erdnussöl, Soja oder bestimmte Farbstoffe (33 Prozent).
Um das Ausmaß unerwünschter Reaktionen abschätzen zu können, ermittelten die Forscher zudem den Gesamtanteil an Hilfsstoffen in festen, für orale Applikation vorgesehenen Medikamenten: Im Schnitt betrug der Massenanteil der Hilfsstoffe in Pillen und Co. stolze 75 Prozent, manche Tabletten bestanden sogar bis zu 99 Prozent aus Zusatzstoffen, die im Englischen als „Excipients" bezeichnet werden. Bei Patienten mit Polymedikation kann sich dadurch die tägliche Zufuhr von Hilfsstoffen bedenklich addieren, zumal manche der Substanzen auch noch in Kosmetika, Nahrungsmitteln oder Getränken enthalten sind. Die FODMAP-Zucker stehen im Verdacht, bei Unverträglichkeit Magen-Darm-Beschwerden zu verursachen und bei Reizdarm-Patienten die Krankheitssymptome zu verschlimmern. Auch Nesselsucht, Bronchospasmen oder sogar die potenziell lebensbedrohende Immunreaktion Anaphylaxie können laut den Forschern durch bestimmte Hilfsstoffe ausgelöst werden. Doch wiesen die Wissenschaftler ausdrücklich darauf hin, dass die Zusatzstoffe beim Großteil der Anwender keine Beschwerden hervorrufen. Bei einem kleinen Kreis von Patienten könnten hingegen schon kleine Mengen dieser Stoffe unerwünschte Arzneiwirkungen zeigen. Von der Pharmaforschung erhoffen sich die Wissenschaftler neben deutlichen Warnhinweisen auf mögliche Unverträglichkeiten künftig die Entwicklung von alternativen Medikamenten-Formulierungen.
Zusatzstoffe teilweise potenter als Wirkstoffe
Was genau sich unter der Bezeichnung „Hilfsstoffe" verbirgt, ist hierzulande im Arzneimittelgesetz (AMG) exakt definiert. Das wichtigste Merkmal: Die Stoffe sollen inaktiv sein, sprich, sie sollen keine pharmakologische Wirkung haben und auch biologisch inaktiv sein, also keine Reaktion mit menschlichen Zellen oder Biomolekülen eingehen, wofür der Fachausdruck „inert" steht. Die meisten Hilfsstoffe gelten als gut geprüft und bereiten in der Regel keine Probleme. Allerdings beruhen die Erkenntnisse über ihre Verträglichkeit vor allem auf Tierversuchen oder auch auf historischen Erfahrungen aus der Alltagspraxis. Zugelassene Hilfsstoffe zu beschränken oder zu verbieten macht nach Meinung von Experten daher wenig Sinn. Zumal sie wichtige Funktionen beispielsweise als Formgebungssubstanzen, als Steuerungselement der Wirkstofffreigabe oder zur Stabilisierung der Medikamentenhaltbarkeit übernehmen. Zu den Hilfsstoffklassen zählen unter anderem Füllstoffe (wie Laktose, Cellulose oder Stärken), Lösungsmittel (wie Wasser oder Ethanol), Emulgatoren (wie Lecithin), Verdickungs- und Bindemittel (wie Stärken oder Alginat), Umhüllungsmittel (wie Gelatine), Konservierungsstoffe oder Süßungsmittel. Den Verdacht, dass womöglich nicht alle der gebräuchlichen Hilfsstoffe tatsächlich inaktiv sind, konnten die Wissenschaftler vom Cambridge Institut aus dem Studium der Fachliteratur erhärten und dabei 38 Substanzen ermitteln, deren Einnahme zu allergischen Reaktionen geführt hatte.
Die Zahl 38 spielt auch bei der jüngsten, Ende Juli im Journal „Science" veröffentlichten Studie der University of California in San Francisco rund um Dr. Joshua Pottel eine entscheidende Rolle. Das Forscherteam hatte sich die Aufgabe gestellt, möglichst viele Hilfsstoffe auf ihre tatsächliche Inaktivität zu überprüfen, weil es dazu bislang nur unzureichende Erkenntnisse gibt. In einem ersten Schritt fütterten die Forscher ein spezielles Computerprogramm mit den gängigsten 3.300 Medikamentenzusätzen und ließ die Software berechnen, bei welchen Substanzen eine etwaige molekulare Wechselwirkung beziehungsweise eine mögliche Bindungsfähigkeit an menschliche Zellen oder humanes Gewebe am wahrscheinlichsten sein könnte. Das Programm ermittelte 69 Hilfsstoffe, die anschließend im Labor auf den Prüfstand kamen, indem sie mit unterschiedlichen menschlichen Enzymen und Zellkulturen in Verbindung gebracht wurden. 38 der vermeintlich inerten, biologisch inaktiven Substanzen konnten an menschliche Proteine anbinden und selbst in relativ geringen Mengen biochemische Veränderungen in Zellen und Geweben hervorrufen. „Es war überraschend", so Pottel, „wie potent einige dieser Zusatzstoffe waren, vor allem wenn man die relativ hohen Mengen berücksichtigt, in denen sie in typischen Präparaten eingesetzt werden." Pottel weiter: „Unsere Studie zeigt damit, dass viele vermeintlich inaktive, in vielen Arzneimitteln eingesetzte Zusatzstoffe in vitro auf biologisch relevante Enzyme, Rezeptoren, Ionenkanäle und Transportermoleküle wirken können. Diese Aktivitäten waren teilweise potenter als die einiger therapeutischer Wirkstoffe."
Allerdings schränkten die Wissenschaftler gleich ein, dass ihre Studienergebnisse nicht so interpretiert werden dürften, dass von den Zusatzstoffen tatsächlich schädliche Nebenwirkungen für den Menschen ausgehen könnten. Man habe lediglich belegen wollen, dass einige Substanzen mit biologisch relevanten Proteinen interagieren können. „Das demonstriert aber noch nicht", so Pottel, „dass diese aktiven Zusatzstoffe auch toxische Effekte nach sich ziehen." Zumal sich die große Mehrheit der überprüften Hilfsstoffe tatsächlich als inaktiv erwiesen hatten. Allerdings sei nicht auszuschließen, dass manche Substanzen bislang verborgene Nebenwirkungen haben könnten, weshalb es sinnvoll sei, zumindest die 38 bedenklichen Hilfsstoffe durch wirklich inerte Substanzen zu ersetzen. „Viele der hier aufgefallenen Zusatzstoffe wie Propylgallat, Butylparaben oder Tartrazin", so Pottel, „werden auch als Lebensmittel- und Kosmetikzusätze verwendet, und dies oft in größeren Dosen als in Medikamenten."