Das schräge Berlin-Buch von Harald Martenstein und Lorenz Maroldt ist Liebeserklärung und Armutszeugnis für die City in einem.
Diktaturen, Mauerbau, Kalter Krieg, Mauerfall, Neustart mit neuen Krisen und Skandalen: Nicht nur einmal wirkte Berlin in den vergangenen 100 Jahren wie ein Spiegelbild deutscher Geschichte. Dazu kamen mit der Zeit Dauerbaustellen, Ämterchaos, der berühmte Berliner Witz (von dem keiner weiß, was damit gemeint ist) und ein Flughafen, der immer fertiger wurde. Schon viele Autoren versuchten sich daran, den Wahnsinn dieser Stadt zu beschreiben. Harald Martenstein und Lorenz Maroldt, der eine Bestsellerautor, der andere „Tagesspiegel"-Chefredakteur, haben sich an eine weitere atmosphärische Ortsbegehung gewagt. Mit Humor und unglaublichen Fakten gelang beiden ein Stadtporträt, das Berlin einerseits Armutszeugnisse ausstellt, andererseits eine Liebeserklärung ist. Mehr als 40 Jahre von Sowjets (Ostberlin) und Bundesrepublik (Westberlin) am Leben gehalten, sei die City zwar ins Scheitern verliebt, doch nach wie vor von sich überzeugt.
In „Berlin in 100 Kapiteln … von denen leider nur 13 fertig wurden" (Ullstein Buchverlag) geht es aber nicht nur um Endlos-Baustellen, Inkompetenz und Gleichgültigkeit in Behörden, sondern auch um Verrücktheiten, die es so wohl nur in dieser Stadt geben kann und konnte. Etwa die Story vom früheren Westberliner „Senatsrockbeauftragten", der laut der Lektüre einen Rock-Contest initiierte, mit der eigenen Band teilnahm, gewann und nach dem musikalischen Wettstreit gefeuert wurde.
„Berlin erinnert ein wenig an eine WG"
Schuldzuweisungen an bestimmte Parteien und Politiker seien bei allen Fehlentwicklungen nicht zielführend. Denn egal, wer die Stadt regierte, besser wurden die Zustände nach Ansicht der beiden selbst ernannten Berlin-Kenner nie: „Ein wenig erinnert Berlin an eine WG, wo sich der Abwasch in der Spüle bis an die Decke stapelt und man sich jeden Abend ergebnislos über die Schuldfrage streitet. Aber niemand spült ab", heißt es im Buch.
Ein Beispiel sei die Bildungspolitik: Seit Jahren lande Berlin im deutschen Bildungsmonitor zuverlässig auf dem letzten Platz. Ein Grund sei auch der katastrophale Zustand vieler Schulgebäude. So fielen in einer Pankower Schule laut Harald Martenstein in den vergangenen 14 Jahren alle gesetzlich vorgeschriebenen Brandschauen aus. Es fehlten Fluchtwege, und die unteren Stockwerke haben keine Rauchmelder. „Die gibt es nur im Dachgeschoss, aber das ist aus Brandschutzgründen gesperrt", ist im Berlin-Schmöker nachzulesen. „Die Bezirke sagen: Der Senat ist schuld, wir haben zu wenig Personal. Der Senat sagt: Die Bezirke können nicht mit Geld umgehen. Einig ist man sich nur in einem, man ist nicht zuständig!"
Wäre alles nicht so traurig, könnte man darüber lachen. Das tun beide Schreiber, Martenstein gebürtig in Mainz und Maroldt in Köln, auch. In den 80er-Jahren kamen beide in die Stadt. Ihre Lieblingsplätze finden sich vor allem im Westteil der Metropole, in dem beide leben. Harald Martenstein, mit dem wir das Gespräch führten, fühlt sich im heimischen Kreuzberger Gräfekiez am wohlsten. „Mein zweiter Lieblingskiez ist der Stuttgarter Platz mit Leonhardstraße: altes Westberlin, entspannt und gediegen", so der 67-jährige Buchautor und Zeitungskolumnist.
Martensteins liebstes Lokal sei das „Café Einstein" in der Kurfürstenstraße. Das zweite „Einstein" Unter den Linden sei zwar bei vielen Journalistenkollegen angesagter. Er selbst schätze jedoch eher die Atmosphäre des Stammhauses im Stadtteil Tiergarten. Trotz der Liebe zum alten Westberlin – Harald Martenstein kann noch mit einer echten Überraschung aufwarten: seinem Häuschen in der Uckermark! Für ihn zähle die Gegend zu den schönsten in Deutschland überhaupt. Seine Tipps heißen Unteruckersee sowie Himmelpfort und Feldberger Seenplatte in der Nachbarregion. „Prenzlau hat übrigens seit ein paar Jahren eine schöne Uferpromenade mit tollem Freibad und ist überhaupt besser als sein Ruf. Die Balu-Strandbar könnte auch am Mittelmeer liegen, der beste Platz für einen Cocktail", sagt der Mann mit Zweitwohnsitz in Gerswalde.
Bei aller Kritik dürfe nicht unerwähnt bleiben, dass fast jedes Berliner Problem auch in anderen deutschen Städten auftritt: von Hamburger Elbphilharmonie bis Stuttgarter Hauptbahnhof. Unterschied: In Berlin gebe es alle Probleme gleichzeitig und in komprimierter Form. So war es letztlich wohl gar nicht so schwer, Fakten für ein Buch über die „organisierte Unzuständigkeit" in Berliner Behörden zusammenzutragen: Dort, wo man drei Jahre braucht, um einen Zebrastreifen auf die Straße zu bringen, vier Jahre, um die Statik einer Ampel zu berechnen, sieben Jahre, um eine Oper zu sanieren und gefühlte Ewigkeiten, um einen Flughafen fertigzustellen.
„Langweilig wird’s jedenfalls nie"
„Berlin in 100 Kapiteln … von denen leider nur 13 fertig wurden" ist ein Buch aus Westberliner Sicht. Werden Straßennamen und Örtlichkeiten erwähnt, liegen die meist im Westteil der Stadt. Als Beispiele für Berliner Idylle nennen die Schreiber die West-Kleinode Zehlendorf, Lübars und Frohnau. Martenstein und Maroldt befassen sich auch mit Hertha BSC, Harald Juhnke und Günter Pfitzmann. Von Union Berlin, Helga Hahnemann, Puhdys und alle denen, die Ostberlin prägten, kaum ein Wort. Auch andere Ungenauigkeiten stechen vor allem dem Ostleser ins Auge. So wird im Buch die Rigaer Straße aus dem Friedrichshain nach Kreuzberg und die frühere Spielstätte des verhassten Stasi-Clubs BFC-Dynamo vom Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark ins Sportforum Hohenschönhausen verlegt. Drogen und Prostitution erklären beide zum hundert Jahre alten Gesamtberliner Problem – was für Ostberlin zwischen 1961 bis 1989 aber so nicht stimmt. Nachrichtensprecher Hanns Joachim Friedrichs schreibt man zu, durch seine „Tagesthemen"-Moderation am 9. November 1989 eine Aktie am Run auf die Berliner Mauer zu haben. Als Auslöser gilt bei vielen Berlinern jedoch vielmehr Ex-Bürgermeister Walter Momper durch sein schon zuvor dem SFB gegebenes Interview. Die Pressekonferenz mit SED-Mann Günter Schabowski, auf der er mehr versehentlich als mit Absicht die Grenzöffnung mitteilte, nahm kaum jemand wahr. Letztlich outen sich die motzenden und stichelnden Journalisten als Berlin-Fans, lobpreisen unter anderem „viel Kultur und Natur". Man kritisiere im Buch nicht die Basis, sondern den Überbau, betont Martenstein, Gewinner des Egon-Erwin-Kischpreises von 2004.
Lorenz Maroldt bringt noch ein schlagendes Argument für Berlin: Das Beste an der City sei, dass man nie wegziehen müsse, um etwas Neues zu erleben. „Berlin verändert sich in einem solchen Tempo, dass man in einem Leben gleich mehrere Städte kennenlernt. Wenn einem eine davon nicht gefällt, wartet man eben auf die nächste. Es kommen immer wieder neue Leute mit neuen Ideen, es gibt immer wieder etwas zu entdecken, meistens viel früher als in München, Hamburg, Frankfurt oder Köln. Langweilig wird’s jedenfalls nie", schreibt der Chefredakteur. Was sich der 58-Jährige noch wünschen würde: dass Berlin am Meer liegt. Aber auch das könne ja noch passieren.
Unterschiede zwischen Ost- und Westberlinern beziehungsweise zwischen Ost- und Westdeutschen sehen beide nach wie vor. „Es gibt Unterschiede. Na und? Die muss man aushalten und sein Gegenüber respektieren. Aus einem Brandenburger Dickschädel wird so schnell kein Hipster und kein Latte macchiato auf zwei Beinen. Und das ist meiner Ansicht nach auch nicht nötig", erklärt Martenstein.
Er und Mitautor Maroldt verweisen in ihrem 290 Seiten starken Werk schließlich noch auf eine Komparsenbörse, die Indikator des Berliner Selbstbilds sei: „Für ein Nachmittagsmagazin eines namhaften Senders sind wir auf der Suche nach einer hässlichen Familie." Die Firma konnte sich vor Bewerbern kaum retten, die Anzeige war schon nach wenigen Stunden wieder gelöscht. Auch die Rekrutierung von „Freaks und Punks" und „markanten, ausgefallenen, gelebten Typen" sowie „auffällig tätowierten Frauen und Männern und Babys" für einen Film über den Weltuntergang war rasch abgeschlossen." In Weltuntergang ist Berlin gut!