Seit den 70er-Jahren wird über Telearbeitsplätze und über Homeoffice gesprochen – passiert ist nicht viel. Die Corona-Krise könnte dies ändern, glaubt Prof. Sebastian Reiche. Denn unsere Arbeitsstrukturen stammen aus dem vergangenen Jahrhundert.
Herr Prof. Reiche, derzeit arbeiten viele Menschen weiter von zu Hause aus. Wie ist es bei Ihnen?
Als Akademiker hat man den Vorteil, von zu Hause aus und von überall arbeiten zu können, wo es Internet gibt. Das habe ich auch vor der Pandemie schon oft genutzt, derzeit unterrichte ich hier in Barcelona. Dass ich nun aber über zwei bis drei Monate das Haus quasi kaum verlassen durfte, ist neu, auch für meine Frau und die Kinder. Wir alle mussten neue Strukturen im Alltag lernen – wie viele andere auch.
Homeoffice ist nun kein neues Thema, schon vor 30 Jahren prophezeiten Wissenschaftler Telearbeitsplätze zu Hause. Welche Bedeutung hat das Thema derzeit – ist der Hype berechtigt?
Für das Thema Homeoffice befanden und befinden wir uns in einem natürlichen Experiment. Den Begriff Telearbeit gibt es übrigens schon seit den 70er-Jahren. Es gab Debatten darüber, als der Computerkonzern IBM vor Jahren entschieden hat, dass es kein Homeoffice mehr gibt. Produktivität, Kreativität und Innovationsfähigkeit sei nur dann gewährleistet, wenn Menschen persönlich zusammenarbeiten. Zu Beginn des Lockdowns habe ich mir europäische Arbeitsdaten aus dem Jahr 2015 angeschaut. Die Zahl der Menschen, die zu diesem Zeitpunkt von zu Hause arbeiten konnten, lag bei unter zehn Prozent. Natürlich gibt es Variationen unter den verschiedenen Ländern. Die Frage bleibt: Ist dies der Beginn eines Trends oder kehren die Menschen nach und nach wieder ins Büro zurück? Denn immerhin haben wir, trotz der technischen Möglichkeiten, die Chance auf Homeoffice in den vergangenen Jahrzehnten offenbar nicht genutzt. Dass es möglich ist, haben wir nun gemerkt. Nun geht es um Detailfragen und darum, wie dieser hybride Modus aus Heimarbeit und Büroarbeit gemanagt wird: Wie viel Homeoffice bieten Unternehmen an? Eine spanische Bank zum Beispiel hat nun bei einer Umfrage herausgefunden, dass für die meisten Mitarbeiter zwei Tage pro Woche im Homeoffice interessant und sinnvoll sind. Aber es gibt noch mehr Fragen: Arbeite ich überhaupt in einem Job, der Homeoffice ermöglichen kann? Habe ich nur eine kleine Wohnung? Sind Kinder zu Hause? Gibt es Angestellte, die weiterhin zu Hause bleiben können oder müssen gewisse Abteilungen noch mal zurück? Wie kann ich Mitarbeiter befördern, wenn sie nicht immer im Büro sind? Es ist aber eine Sache der Planung, wer wann zu Hause, vor Ort im Büro oder im Urlaub ist.
Warum war die Zahl der Heimarbeitsplätze denn in den vergangenen Jahrzehnten so gering?
In Südeuropa herrscht noch eine stärkere Anwesenheitspflicht als in Deutschland, insofern muss man die zehn Prozent auch immer bezogen auf das jeweilige Land betrachten. Aber generell hat das sicherlich etwas mit der Angst vor Kontrollverlust zu tun. Forschungen zeigen, dass Manager das Gefühl haben, bei vermeintlichem Kontrollverlust noch mehr kontrollieren zu müssen. Ein Paradox, dass sich durch die gefühlte Distanz erklären lässt. Mitarbeiter haben dagegen den Wunsch nach sozialer Nähe – sie erleben jetzt, wie wichtig dies ihnen in Zeiten von Quarantäne wird.
Wie kann man ihnen diese Angst nehmen?
Damit zusammen hängt die Debatte darüber, wie man erfolgreiche Arbeit misst. Wir sprechen zum Beispiel darüber, die Arbeit – und damit die Entlohnung – nicht mehr an ihrer Zeit, sondern an ihrem Output zu messen. Also: Habe ich Ziele, die ich erreiche, Aufgaben, die ich erfülle? Dem Chef kann es egal sein, wie und wann ich sie erfülle, Hauptsache, in angemessener Zeit und erfolgreich. In der Praxis ist diese Sicht aber immer noch zu wenig geläufig.
Laut einer Ifo-Studie wollen 54 Prozent von 7.000 befragten Unternehmen Homeoffice künftig beibehalten. Das bedeutet, auf manche Manager kommen nun neue Fragen zu. Welche sind das?
Auf Arbeitgeberseite stellen sich erst einmal Kostenfragen: Kann ich nun meine Bürofläche verringern, wenn weniger Angestellte gleichzeitig im Büro sind? Das hat Auswirkungen auf den Immobilienmarkt und ist eine einschneidende Entscheidung für ein Unternehmen. Wie sieht es mit Mitarbeiterführung aus? Hierzu haben wir schon vor der Pandemie viel geforscht. Es gibt bereits recht viele global verteilte Teams, die sich recht selten sehen. Führungsverantwortlichkeiten werden hierbei stärker verteilt und dezentralisiert, trotzdem müssen Manager mehr verfügbar sein, sich mehr Zeit nehmen für die Bedürfnisse der Angestellten als zuvor. Das Schaffen von Meilensteinen in Projekten bietet Gelegenheit zum gemeinsamen Feiern, auch und gerade wenn dies virtuell erfolgt. Sich nur auf das reine Arbeiten zu fokussieren ist auf lange Sicht kontraproduktiv, das ist für ein zwischenmenschlich funktionierendes und belastbares Team dann nicht mehr gut.
Der Angestellte muss sich fragen, welche zusätzlichen Vorteile bietet mir das Unternehmen, während das Unternehmen sich fragen muss: Was muss ich an Vorteilen anbieten, um zufriedene Mitarbeiter zu halten? Es geht also nicht mehr nur ums Gehalt, sondern auch um viele weitere Vorteile: soziale Interaktion mit Kollegen an einem Freitagabend nach Feierabend zum Beispiel, oder gemeinsamer Sport. Damit schaffen Unternehmen Bedeutsamkeit über den reinen Job hinaus, und dazu zählt nun auch verstärkt das Homeoffice.
Die neue Arbeitsweise hat positive Auswirkungen: Unternehmen könnten global statt regional Mitarbeiter rekrutieren, die Bürofläche verkleinern, das Pendeln entfällt teilweise – was sind denn die Nachteile des Homeoffice?
Zum einen: Die Arbeitstage sind länger. Viele Manager mögen das nicht glauben, aber die Forschung bestätigt, dass Mitarbeiter zu Hause länger arbeiten als im Büro. Zum anderen: Eine Kommunikation aufzubauen ist komplizierter als im Büro. Mal eben an der Kaffeebar ein Schwätzchen halten und dabei ein kleines Problem lösen, entfällt. Die Produktivität leidet, wenn zu Hause keine abgeschottete Umgebung, kein eigener Raum für das Arbeiten vorhanden ist, wenn die Wohnung klein ist. Die Selbstmotivation fällt schwerer, wenn ich keine Kollegen, keinen Vorgesetzten direkt greifbar um mich herum habe, die dies für mich übernehmen. Es gibt Menschen, die können Arbeit und Privatleben schlechter voneinander trennen als andere, die Psychologie sagt dazu segmentieren: zu Hause bin ich Vater, Ehemann, Freund; auf der Arbeit Forscher, Arbeitskollege. Diese Rollen zu ordnen, fällt manchen Menschen zu Hause schwerer als bei Trennung von Arbeitsstelle und Wohnung.
Aber schaffen wir nicht dadurch eine Zweiklassengesellschaft aus Heimarbeitern und solchen, die zum Beispiel an der Produktionslinie in der Fabrik stehen müssen?
Ich sehe ein Risiko darin, aber diese Zweiteilung wird es verstärkt geben. Wir haben gesehen, dass Remote-Jobs auch einfach sicherer waren als diejenigen, die während des Lockdowns schlicht nicht arbeiten konnten oder durften. Bestimmte Jobs werden durch maschinelles Lernen irgendwann ersetzt, sodass auch Maschinen künftig von überall aus bedient werden können.
Können Sie sich einen Ausgleich für diejenigen vorstellen, die nicht zu Hause arbeiten?
Unternehmen müssen sich fragen, ob sie in irgendeiner Weise die Lasten von Büro- und Heimarbeitern fair verteilen können. Können zum Beispiel Jobs rotieren? Können Zeiten für ein Online-Meeting mal verändert werden, damit nicht immer der Gleiche sich abends um zehn in einen Call von Übersee einwählen muss? Bei nicht allzu unterschiedlichen Jobbeschreibungen kann ich so ein bisschen Gleichheit schaffen. Das hilft weniger in Industrie- und Handwerksjobs. Hier sehe ich eher die Politik in der Pflicht. Klar ist: Wie wir arbeiten, wird sich ändern. Ich hoffe, der externe Schock durch die Pandemie ist dabei ein notwendiger Impuls. Unsere jetzigen Strukturen des Arbeitens sind mittlerweile antiquiert, sie stammen aus dem vergangenen Jahrhundert. Jetzt haben wir die Gelegenheit, dies zu ändern.