Vor genau 30 Jahren kam die Deutsche Einheit zustande. Kaum jemand hatte sie so schnell für möglich gehalten. Vieles verlief überstürzt. Es wurden Fehler gemacht, dennoch gab es keine Alternative.
Noch immer ist es schwer zu begreifen, was vor 30 Jahren geschah: Innerhalb von rund elf Monaten nach dem Fall der Mauer, dem Zusammenbruch eines Staates, war die Deutsche Einheit unter Dach und Fach und besiegelt. Sie war nicht geplant, sondern sie kam zustande als sich glückliche Umstände fügten, von Politikern im richtigen Augenblick und mit Geschick in die richtigen Bahnen gelenkt. Das Fenster der Geschichte, das sich nur selten öffnet, war nicht verriegelt gewesen.
Die Deutsche Einheit war, und hier trifft ein Wort aus einem ganz anderen Zusammenhang wirklich: alternativlos. Was nicht bedeutet, dass alles perfekt gelaufen ist. Bis heute sind die Fehler sichtbar; von Industrien, die von heute auf morgen zusammengebrochen sind, obwohl sie vielleicht noch zu retten gewesen wären, bis hin zu Enttäuschungen darüber, dass die Kritik an einem Staat oft mit der Kritik an den darin gelebten Lebensjahren einhergeht.
Heute scheint die Ost-West-Spaltung weitgehend überwunden. Jedenfalls, soweit man es an Zahlen festmachen kann: Die Löhne und Mieten haben sich denen im Westen im Durchschnitt ziemlich weit angeglichen, die Renten ebenfalls. Die Infrastruktur ist in vielen Städten sogar besser als (tief) im Westen. Herausgeputzte – aber oft ziemlich verlassene – Orte sprechen eine deutliche Sprache.
Dennoch sind DDR und die alte BRD bis heute zu erkennen, für den, der die Augen aufmacht: In der Architektur wie in den Erinnerungen und politischen Haltungen und Erfahrungen.
Die Ost-West-Spaltung scheint überwunden
Eberhard Diepgen war für insgesamt 15 Jahre Regierender Bürgermeister von Berlin, fünf davon vor dem Mauerfall, als West-Berlin von Mauer und DDR umgeben war, und zehn Jahre in den 1990er- Jahren. Kaum ein deutscher Politiker hat diese Umbruchzeit hier so intensiv miterlebt und geprägt wie Diepgen. Er habe die Einheit immer im Blick gehabt, sagt er heute. Aber er sagt auch, Helmut Kohl habe Recht gehabt, erst das Volk seinen Willen zeigen zu lassen. Sonst wäre die Einheit am Widerstand der Briten und Franzosen möglicherweise gescheitert.
Unterschiede zwischen Ost und West gibt es bis heute in der Arbeitswelt. Im Osten sind die Gewerkschaften weniger stark als im Westen. Das liegt vor allem daran, dass es im Osten viel weniger Hauptwerke großer Konzerne gibt. Nicht zuletzt liegt hier die Produktivität rund ein Fünftel unter dem Niveau westdeutscher Unternehmen. Es liegt aber auch an den schlechten Erfahrungen mit der früheren Rolle der Gewerkschaften. Das hat politische Auswirkungen bis heute.
Und offenbar haben die Erfahrungen mit der Diktatur nachhaltige Spuren hinterlassen: Ein Misstrauen gegen herrschende Meinungen, die vom Staat und den wichtigsten Medien verbreitet werden. Es gibt auch heute, so sagen Kritiker, von denen auffallend viele aus dem Osten kommen, einen Mangel an Binnenpluralität in Talkshows und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Diese Kritik wird oft heftig erwidert, meist von Menschen, die weniger lebenszeitliche Erfahrungen mitbringen.
Dass die Ost-West-Spaltung mental immer mehr an Bedeutung verliert, ist oft gesagt worden. Es stimmt wahrscheinlich, wenn man nur die Unterschiede zwischen Ost und West betrachtet. Als Teil einer allgemeinen Ausdifferenzierung zwischen Regionen, Stadt und Land sieht es aber noch einmal ganz anders aus.