Die zu Beginn als Rettung vor der Pandemie groß gefeierte Corona-Warnapp ist bislang praktisch wirkungslos, weil nur wenig Betroffene sie richtig einsetzen. Zudem hilft sie den Gesundheitsämtern nicht bei der Nachverfolgung. Die Regierung feiert sie trotzdem als die „beste App".
Wie wurde sie gefeiert! Sie sollte die Pandemie ganz im Zeichen der Digitalisierung in den Griff bekommen. Was stimmt: Technisch ist die App ein voller Erfolg. Die Datenschützer sind auch zufrieden, weil keine persönlichen Daten erfasst werden. Dazu dient eine besondere „dezentrale" Technik der Verschlüsselung, wobei die Daten immer nur auf den Smartphones selbst gespeichert werden. Über 18 Millionen Deutsche haben die App bereits heruntergeladen, so groß ist das Vertrauen. Die vielen Plakate und die ständigen Bitten und Ermahnungen durch die Bundesregierung zeigen Wirkung. Die App sei eine „große Erfolgsgeschichte" sagt Kanzleramtsminister Helge Braun auf der zentralen Pressekonferenz, die nach 100 Tagen App eine erste Bilanz ziehen soll. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ergänzt schön doppelsinnig: „Es ist mit Abstand die erfolgreichste Corona-Warnapp". In fast schon Trump‘scher Diktion nennt er die Corona-Warnapp, die insgesamt 68 Millionen Euro kosten wird (davon etwa 20 Millionen Euro Entwicklungskosten) „eine der erfolgreichsten Apps weltweit".
Ist die App wirklich eine „große Erfolgsgeschichte"?
Es gibt allerdings ein Problem dabei: Die Leute nutzen die App nicht, jedenfalls nicht so, wie sie gedacht ist. Und wenn sie nicht so genutzt wird, wie gedacht, ist sie eigentlich sinnlos. Seit dem 16. Juni, dem Tag, als die App zum Download freigeschaltet wurde, gab es laut RKI offiziell rund 93.000 neue Covid-19-Infektionen. In der gleichen Zeit haben nur 5.000 Nutzer die Warn-Funktion der App genutzt und damit anonym diejenigen „gewarnt", mit denen sie in den Tagen zuvor in engerem Kontakt über mindestens 15 Minuten standen. Diese Kontakte werden durch die App mittels Bluetooth-Technik erfasst, die über kurze Distanzen den Smartphones erlaubt, „sich zu erkennen".
Wenn man der Einfachheit halber unterstellt, dass von den 93.000 Neuinfizierten etwa ein Viertel die Warnapp auf ihrem Smartphone hatte, was etwa dem Anteil der Downloads an der erwachsenen Bevölkerung entspricht, dann hätten etwa 23.000 eigentlich die Warnfunktion einsetzen sollen – es haben aber nur 5.000 getan – also etwa ein Fünftel. Wieso haben rund vier Fünftel die Funktion nicht aktiviert, obwohl sie die App hatten? Darüber können die Bundesminister Spahn und Braun, sowie die Chefs von Telekom und SAP, die die App entwickelt haben, nur mutmaßen. Eine grundsätzliche Skepsis wegen Datenschutz oder Corona-Leugnung kann man ausschließen, denn dann hätten sie die App ja gar nicht heruntergeladen. Es handelt sich hier schon um den Teil der Bevölkerung, der digital aufgeschlossen ist und mit dem Smartphone etwas gegen die Ausbreitung der Pandemie tun will.
Als Erklärung bleibt nur: Die meisten „Nutzer" der App haben deren Funktion schlicht nicht begriffen. Dorothee Bär, Digitalstaatsekretärin im Bundeskanzleramt sagt darum sehr richtig, die App nutzt nur, „wenn sie nicht nur installiert, sondern auch genutzt wird." Das wird sie aber praktisch nicht. Theoretisch könnte sie vielleicht gut funktionieren. Aber sie wird von den betroffenen Nutzern nicht dafür genutzt, wofür sie da ist.
Die Nutzung ist nämlich nicht so einfach, wie allgemein zu hören ist: Es ist gar nicht bekannt, dass man im Falle eines positiven Falls in der App extra die Warnnachricht freigeben muss. Hinzu kommt, dass die App zwei unterschiedliche Risiken erfasst. Zum einen gibt es die Warnung nach dem direkten Kontakt, die App zeigt dann rot. Die Empfehlung: „Die Nutzerin/der Nutzer wird aufgefordert, persönliche Kontakte zu reduzieren. Bei Symptomen soll die Hausarztpraxis, der kassenärztliche Bereitschaftsdienst oder das Gesundheitsamt kontaktiert werden. Die Hausarztpraxis oder das Gesundheitsamt entscheiden über ein Testangebot." Jetzt müsste der Nutzer sein Testergebnis, das per QR-Code oder über TAN-Nummer auf das Smartphone übertragen wurde, freigeben und den Button „Informieren" drücken.
Zum anderen gibt es aber noch ein grünes Signal mit niedrigem Risiko, wonach jemand mit positivem Covid-19-Test in der Nähe war. Dabei handelt es sich um Personen in einem Abstand von bis zu acht Metern oder kurzer Begegnungszeit – Faktoren, aus denen ein Algorithmus ein Risiko ermittelt. Was folgt daraus? „Kein akuter Handlungsbedarf". Man solle aber die AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Maske) noch bewusster befolgen, so die offizielle Empfehlung. Das soll man doch sowieso, es ist also eine Null-Information. Durch unnötige, alles komplizierende Zusatzinformationen wird hier der eigentliche Hauptzweck der App verunklart.
Die Schwierigkeit der gefeierten App ist aber weniger, dass sie kaum genutzt wird. Das könnten Kinderkrankheiten sein, denn immerhin steigt die aktive Nutzung der App. Wie SAP-Chef Jürgen Müller betont, gehe der Trend deutlich nach oben. Inzwischen melden schon 157 pro Tag über die App ihre Infektion, doppelt so viel wie vor vier Wochen. Dennoch ist das bei über 2.000 Neuinfektionen pro Tag immer noch sehr wenig.
App ist keine Hilfe für die Gesundheitsämter
Das eigentliche Problem mit der App aber ist, dass der Sinn der App gar nicht allgemein klar ist. So behaupten selbst Fachjournalisten einschlägiger Hamburger Wochenmagazine, die App sei „dazu da, die Gesundheitsämter zu unterstützen". Das ist schlicht Unsinn. Die Warnapp sei in der jetzigen Form „keine große Unterstützung bei der Bekämpfung von Corona-Ausbrüchen", sagte die Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Ute Teichert. Das ist auch verständlich: Die App hat mit dem Prozess der persönlichen Nachverfolgung, die meist telefonisch erfolgt, nichts zu tun. Es gibt keine Funktion zur Benachrichtigung des Gesundheitsamtes, sie ist ja anonym. Die App ist ganz offenbar eine technische Spielerei, die nicht zur Eindämmungspraxis durch die Gesundheitsbehörden passt.
Die Digitalgiganten Google und Apple, mit denen die Telekom und SAP bei der Entwicklung der App eng zusammenarbeiten mussten, sind inzwischen dabei, eine eigene Nachverfolgungsfunktion in ihre Betriebssysteme einzubauen, die unabhängig von nationalen Apps funktionieret. Bei Apple wird die deutsche Warnapp zudem inzwischen automatisch beim Update des Betriebssystems installiert. Während die deutsche Warnapp immerhin noch von den Experten des RKI mitentwickelt wurde, kommen diese Funktionalitäten von Apple und Google ohne staatlichen Einfluss aus. Somit gibt es also unterschiedliche Systeme, die alle angeblich den Gesundheitsämtern helfen sollen, in Wahrheit aber eher in Konkurrenz zu ihnen stehen.
Obwohl sie bislang die Nutzer kaum überzeugen konnte, soll die App nun noch erweitert und mit den Apps aus elf EU-Länder integriert werden. Es wird allein wenig bringen.