Das Pizzeria-Urgestein „L’Antica Pizzeria Da Michele" hat einen Ableger in Schöneberg bekommen. Die Pizzaioli folgen der neapolitanischen Tradition und backen die Pizzen noch im Holzofen. Die dürfen dafür aber auch manchmal ganz modern werden – etwa als frittierte Dessert-Knoten mit Nutella.
Über den Tellerrand hinausragende Marinara und Margherita, gute Laune und beglückte, Pizza essende, schwatzende Menschen an den Tischen: „L’Antica Pizzeria Da Michele" aus Neapel bringt süditalienisches Lebens- und Essgefühl nach Schöneberg. Doch die Pizzeria hatte keinen ganz unbeschwerten Start. Am 18. Februar war Eröffnung, am 12. März gleich wieder Schluss. Zwei Monate coronabedingte Pause mögen angesichts der 150-jährigen Tradition der Pizzeria, die „dal 1870" als Zeitangabe mit im Logo führt, kurz wirken. Für Roberta Marcone, Mitinhaberin und Restaurantleiterin in Berlin, bedeuteten sie dennoch ein Neujustieren des Konzepts.
„Vorher saß man wie in Neapel mit vielen an langen Tischen", erzählt sie. „Man teilt die Pizza, isst, trinkt, redet." Daran war beim Restart am 15. Mai in dieser Form nicht mehr zu denken. Die Tische im weitläufigen Innenraum sind jetzt auseinandergezogen. Sie bieten 52 statt 90 Gästen Platz. Im Sommer wurden sie auf den Gehweg gestellt und erzeugten sofort südländisches Flair.
Von 17.30 Uhr bis 19.30 Uhr ist Familienzeit
Sollte ursprünglich alles möglichst spontan sein, wird jetzt mit vielen Reservierungen und eineinhalbstündigen Zeit-Slots gearbeitet. Roberta Marcone, die aus Neapel stammt, erkor Berlin als „international capital of Europe" für die erste „Da Michele"-Filiale in Deutschland aus. Sie trifft im Kiez nun weniger auf junge, internationale Gäste und Touristen. „Wir haben viele ältere Gäste, zahlreiche davon aus dem Viertel", sagt sie. „Ich habe jetzt aber mehr Zeit, mit ihnen zu sprechen und sie besser kennenzulernen." Nach Schul- oder Kita-Schluss sind das zum Beispiel Eltern mit ihren Kindern. „Von 17 bis 19.30 Uhr ist Familienzeit." Außerdem wird etwa ein Drittel der Pizzen außer Haus verkauft. Ein Trend, der sich im Herbst und Winter verstärken dürfte.
Wir starten bei unserem Besuch – noch an einem warmen Abend – vor dem Lokal an der Fritz-Reuter-/Ecke Kärntener Straße mit einem mir bislang unbekannten neapolitanischen Snack. Eine Frittatina liegt neben einem beeindruckend dekorativen Spritzer von Tomaten-Püree sowie Basilikum-Tupfern auf dem Teller. Wer die kross frittierte Hülle aufbricht, blickt auf das schlotzige Innenleben – Nudeln mit Béchamelsauce, Erbsen, Hack und Tomate. „Eine Pasta-Boulette!", entfleucht es mir. Aus dem Kontrast von kross und cremig, gepaart mit der Wohlfühl-Kombi aus Tomaten-Umami, ein bisschen Gemüse und Fleisch bezieht dieses Street-
food seinen Reiz.
Das Grundrezept ist heilig
Wir begehen den Fehler, jede ein ganzes Exemplar von Camembert-Größe erfreut aufzuessen. Das setzt für die anschließende Pizza-Runde eigentlich eine zwischenzeitliche Bergwanderung voraus. Die Zeit haben wir nicht, aber wir sind trainierte Esserinnen und stellen uns jeder Herausforderung!
Die „Da Michele"-Pizzen sind mit ihrer zwölfstündigen Teigführung, in ihrer Herstellung und in der Verwendung traditioneller süditalienischer Produkte ganz nah dran am Jahr 1870. Damit das so bleibt, ist es obligatorisch, überall dasselbe Mehl, Öl, Tomaten, Mozzarella und Pecorino zu verwenden. „L’Antica Pizzeria Da Michele" ist inzwischen nicht nur ein italienweit agierendes, sondern ein internationales Unternehmen: Es gibt Franchise-Filialen in Rom, Verona, Florenz, auf Sardinien. Und in Dubai, Japan und Hollywood. Der beschauliche Wohnkiez zwischen S-Bahnhof Schöneberg und Hauptstraße, der bislang nicht gerade als kulinarisches Epizentrum von sich reden machte, in einer Reihe mit Hollywood – das hat was!
Im ursprünglichen „Da Michele" in Neapel gibt es nur vier Pizzen, darunter Margherita und Marinara. An den anderen Orten dürfen sie variiert und an die regionalen Gepflogenheiten angepasst werden. „Wir können Zutaten hinzufügen", sagt Roberta Marcone. „Aber nichts weglassen." Eine für Berlin passende vegane Pizza hat „Da Michele" mit der klassischen Marinara von Hause aus im Angebot. Auf den Teig kommen nur Tomatensauce, Oregano, Knoblauch und Sesamöl. Kein Olivenöl; es würde das knapp eine Minute lange Backen bei 500 Grad Celsius nicht gut verkraften.
Soeben ist eine weitere vegetarische Rote in Berlin auf die Karte gesetzt worden. Auf die Tomatensauce kommt gebratenes Gemüse zum Liebhaben: Auberginen, Paprika, Brokkoli und außerdem Champignons. Zudem werden die Vorspeisen um Veganes aus typisch neapolitanischen Gemüsesorten ergänzt: Zu Pizzabrot-Stücken werden eine Auberginen- oder eine Paprika-Creme gereicht.
Wir haben bei unserem Besuch unser Auge auf die alle zwei Wochen wechselnde „Speciale" geworfen, in diesem Fall eine Capricciosa. Die „Kapriziöse" ist eine tomatige Pizza – mit Kochschinken, Champignons, Artischocken, Oliven sowie Mozzarella Fior di Latte belegt. Unser spontaner Liebling ist eine andere Weiße, eine Friarelli e Salsiccia. Leicht herber wilder Brokkoli und würziges Wurstbrät kuscheln sich in eine üppige Fior-di-Latte-Schicht ein. Das ist eine sehr glücklich machende Kombination!
Weil die Pizzen ausufernd über den Tellerrand hängen, fragen wir unsere Begleiterin Sara Trovatelli von der Berliner Kulinarik-Interessenvertretung True Italian Food, wie sich Pizza eigentlich traditionell, korrekt und womöglich kleckerfrei essen lässt. Messer und Gabel? Viertel oder Achtel in der Hand mit Abbeißen? „In Viertel geschnitten und dann zusammengefaltet esse ich sie meistens", sagt sie. In Neapel wird sie dagegen meist als „Pizza a Portafoglio" als Ganzes wie eine Brieftasche zweimal zusammengeklappt und aus dem Papier in der Hand gegessen.
Nach jeweils einem Viertel von der Capricciosa und der Friarelli e Salsiccia kapitulieren wir vorerst und müssen eine Pause einlegen. Freunde der gepflegten morgendlichen kalten Pizza kommen bei „Da Michele" auf ihre Kosten: Es bleiben genügend wohlschmeckende Reste zum Einpacken und Vespern übrig. Da aber die kulinarische Berichterstatter-Pflicht ruft, wollen wir noch von einer Margherita vor Ort probieren. „Ich lasse euch eine Baby-Margherita bringen", kündigt Roberta Marcone an.
Ab 15. Oktober True Italian Pizza Week
Die nur mit Tomaten, Fior di Latte und Basilikum belegte und der italienischen Königin Margherita zu Ehren benannte Super-einfach-Pizza im Tricolore-Look gibt es so nicht offiziell auf der Karte. Sie wird aber auf Nachfrage für die Kinder gebacken. Wow, sie ist allerdings immer noch formatfüllend tellergroß. „Das ist eine neapolitanische Babypizza, keine deutsche!", bemerkt die begleitende Freundin. Wir sind uns sicher: Ganz gleich ob Kind oder Erwachsener: In jede Italienerin und jeden Italiener passt mehr hinein als ihr oder ihm von außen anzusehen ist!
Sara Trovatelli hat uns zu „Da Michele" begleitet, um mit Roberta Marcone letzte Absprachen für die nächste True Italian Pizza Week vom 15. bis 21. Oktober zu treffen. 30 „wahrhaft italienische" Pizzerien haben sich zusammengetan, um binnen einer Woche zu zeigen, wie viel Italien in Berlin steckt. Für zwölf Euro gibt es einen Aperol Spritz plus eine von zwei zur Auswahl stehenden Pizzen als Angebot in jedem Lokal. „Es machen immer mehr neue Pizzerien mit", stellte Trovatelli fest, die die Berliner „Pizza Week" im vierten Jahr organisiert. „Sie sind oft ganz strikt mit ihren Ansprüchen." Nicht dass jemand auf die Idee käme, eine römische mit einer neapolitanischen Pizza zu verwechseln. Oder eine erst nach dem Backen belegte Pinsa mit einem Stück vom Blech geschnittener Pizza a taglio.
Nächster Halt Pizza: Als Wegweiser zu den teilnehmenden Pizzerien dienen die typischen „True Italian"-Flyer im U-Bahn-Linien-Look. Die True Italian Pizza Week ist ein inzwischen bundesweites Probieren-geht-über-Studieren-Erfolgsmodell. Sie findet parallel in neun weiteren Großstädten wie etwa Frankfurt, München, Hamburg und Leipzig statt.
Ob „Nodini" als „Pizza Week"-Special im „Da Michele" mitspielen? Die kleinen Knoten knuspern wir zum Abschluss unserer persönlichen True Napolitan Pizza Night weg.
Wir wissen nun: Frittierter Pizzateig in Süß schmeckt. Sehr gut sogar. Schön, dass er in kleinen Schleifen gereicht wird, denn er wird noch üppig von Nutella und Puderzucker getoppt. Wenn Signore Michele das wüsste! Ende des 19. Jahrhunderts ahnte er in Neapel wahrscheinlich nichts davon, dass Streifen von heißen Hefefladen einmal in Fett gebacken und mit Schokocreme beträufelt werden würden. „Essen mit Nutella ist in Italien im Moment total angesagt. Nicht nur auf Pizza", weiß Roberta Marcone. Wir sind also mittendrin, mitten in Schöneberg und im Trend und finden den sogar ziemlich gut.