In der Präfektur Yamagata, sechs Zugstunden nordöstlich von Tokio, hat sich eine Tradition erhalten, die andernorts in Japan schon lange ausgestorben ist. In den entlegenen Bergen der Region folgen Bergmönche, die Yamabushi, ihren asketischen Ritualen. Seit einigen Jahren können auch Touristen daran teilnehmen.
Ich hatte mich vor dem Wasserfall fotografieren lassen und mir so schnell die erste Rüge eingehandelt. Meister Kato hatte mir als Journalist erlaubt, ein Mobiltelefon auf die langen Wanderungen durch die japanischen Wälder mitzunehmen. Normalerweise sind Handys, Armbanduhren und Kameras auf seinen Selbstfindungsseminaren streng verboten. Dass ich aber einen Mitreisenden gebeten hatte, ein Foto von mir zu machen, ging dem Meister zu weit. Schließlich war ich im weißen Totengewand unterwegs, sollte mich loslösen von dieser Welt. Ein Foto stelle eine Verbindung zur Realität her, schimpfte Meister Kato und verlangte von mir, es umgehend zu löschen. Schon am Vorabend der Ausbildung hatte Kato angekündigt: Sobald das Training beginnt, werde es vorbei sein mit der Freundlichkeit. Während er uns zur Begrüßung noch lachend mit einem „Just call me Kato" willkommen geheißen hatte, sollten wir ihn dann „Master" nennen. Wir, das sind fünf Deutsche, die sich in drei Tagen in die Traditionen der Yamabushi einführen lassen wollen. Selbstfindung auf Japanisch. Kein Harmoniegerede, kein Klangschalensound und keine Seelenbeschau, sondern Disziplin und Askese. Drei Tage reichen gerade mal für einen Schnupperkurs. Wer wirklich Yamabushi werden will, braucht länger. In früheren Jahrhunderten zogen sich die Mönche oft monatelang mit ihren Schülern zu asketischen Übungen in die Wildnis zurück. Auch heute muss, wer sich Meister nennen will, zumindest zwei Monate in den Bergen ausharren.
Frage nach dem warum ist tabu
Die Yamabushi sind Anhänger des Shugendo, einer Glaubensrichtung, die Elemente des Shintoismus, Buddhismus und Animismus in sich vereint. Sie beten keine einzelne Gottheit an, sondern verehren die Geister der Natur. Im 17. Jahrhundert lebten überall in Nordjapan Bergmönche, man schrieb ihnen übernatürliche Kräfte zu, und deswegen suchten auch die gefürchteten Samurai ihren Rat. Als sich Japan im 19. Jahrhundert dem Westen öffnete, wurde Shugendo verboten. Nur in der entlegenen Präfektur Yamagata konnten die Yamabushi, in den Wäldern versteckt, ihre Traditionen bewahren. „Wer wiedergeboren werden will, muss zuerst sterben", sagt Meister Kato. Deswegen kleiden sich Bergmönche und ihre Schüler in Weiß, der Farbe des Todes. Hose, Jacke, sogar die Unterwäsche und der Turban, die wir tragen, sind weiß. Weil die Kleidung aus langen Tuchbahnen besteht, die umständlich um den Körper gebunden werden müssen, dauert das Anziehen eine halbe Stunde. Wer sich, wie ich, beim komplizierten Binden der Hose ungeschickt anstellt, braucht noch länger. Meister Kato macht zwar vor wie es geht, helfen würde er aber nie. Erklärungen widersprechen den Grundsätzen der Yamabushi. Man lernt dadurch, dass man den Meister kopiert, es ihm gleichtut. Die Frage nach dem Warum ist tabu. Überhaupt sind wir Schüler zum Schweigen verurteilt. „Uketamo", ist das einzige Wort, das wir in den Tagen der Ausbildung brauchen werden. Das ist japanisch und heißt: „Ich gehorche". Nachdem wir endlich alle unsere weißen Pilgerkleider angelegt haben, befiehlt Meister Kato uns in einer Reihe aufzustellen. Mit unserem ersten „Uketamo" quittieren wir seine Anordnung. Doch der Meister ist mit der Lautstärke unserer Rufe nicht zufrieden. „Uketamo", brüllen wir erneut. Jetzt gefällt es ihm, und schließlich dürfen wir abmarschieren – hinter ihm her, hinauf auf die Berge. Am Vorabend der Ausbildung, als Meister Kato einfach Kato war und Fragen noch erlaubte, hat er mir erklärt, dass die Strenge, mit der er seine Schüler behandelt, kein Selbstzweck ist. Sie soll ihnen vielmehr helfen, sich auf die Situation einzulassen. Keiner braucht mehr zu überlegen, was richtig und falsch ist, jeder muss nur den Vorgaben des Meisters folgen. Weil seine Schüler unter seiner Führung in eine eigene Welt eintauchten, seien beispielsweise auch Armbanduhren verboten, erklärt Kato. Die Zeit unserer Welt spielt keine Rolle mehr, ein Blick auf die Uhr würde nur die Gedanken in eine falsche Richtung lenken.
Was sich für mich am Abend vor dem Marsch ins Gebirge noch plausibel angehört hat, stellt sich am nächsten Tag schon anders dar. Statt mich zu entspannen, bin ich gestresst. Bloß nichts falsch machen, denke ich ständig. Meister Katos Strenge, mit der er auf jeden unserer Fehltritte reagiert, erinnert mich bald mehr an einen Drill-Sergeant der US-Armee als einen friedlichen japanischen Bergmönch. Vermutlich ist es aber gar nicht Katos Art, die mir den Einstieg in mein Leben als Bergmönchnovize so schwermacht, sondern mein „deutsches Denken". Disziplin und Drill gehen hierzulande nur schwer mit Entspannung und Sinnsuche einher. In einer hierarchischen Gesellschaft wie der japanischen passt das schon eher. Am Tag nach dem Ende unseres Trainings erzählt Kato, dass seine Kurse seit einigen Jahren immer gefragter werden. „Viele Stadtmenschen kommen auf der Suche nach sich selbst zu mir", sagt Kato. Die Religion verlöre zwar an Bedeutung, dafür interessierten sich immer mehr Menschen für Spiritualität. Damit beschreibt Kato Takeharu, wie Meister Kato mit bürgerlichem Namen heißt, irgendwie auch sein eigenes Leben. Früher arbeitete er als erfolgreicher Werbetexter in Tokio. Erst als sein Sohn auf die Welt kam, begann er über den Sinn des Lebens nachzudenken, und als er dann auf einer Geschäftsreise einen Yamabushimeister kennenlernte, stand sein Entschluss fest: Kato verließ sein altes Leben, zog mit seiner Familie nach Yamagata und ließ sich zum Bergmönch ausbilden. Bereut hat er diesen Schritt nie: „Mein Sohn soll keinen Vater haben, der ein unerfülltes Leben lebt", sagt der Mittfünfziger mit Überzeugung.
Ein bisschen Suppe mit Rettich
Durch den Zedernwald steigen wir nach oben. Das Aneinanderreiben des Stoffes unserer Hosen und unser angestrengter Atem sind die einzigen Geräusche im Wald. Selbst die Vögel scheinen sich unserem Schweigegelübde angeschlossen zu haben. Irgendwann erreichen wir den ersten Tempel. Dort beginnen wir unsere Meditation. „Moromoromorotsumigarete", so lautet die erste Zeile eines langen Gebets, das wir an diesem und den nächsten Tagen noch unzählige Male wiederholen werden – an jedem Tempel, den wir passieren, am Morgen nach dem Aufstehen, abends und auf unserer nächtlichen Meditationswanderung. Auch unter einem frostigen Wasserfall stehend murmeln wir das Gebet. Was die Zeilen bedeuten, weiß keiner von uns Schülern. Meister Kato hatte uns am Anfang einen Zettel ausgehändigt, auf den sie geschrieben standen. Und fragen ist nicht erlaubt. Am Abend sitzen wir dann im Schneidersitz vor einer winzigen Schüssel mit Misosuppe, in der ein Schnitz Rettich schwimmt. Wobei der Rettich noch dazu dient, den Teller zu säubern. Zähneputzen und sich waschen ist streng verboten – das widerspricht der Askese. Wer spricht, wird von Meister Kato zurechtgewiesen. Immerhin dürfen wir die Nacht auf einem dünnen Futon schlafen. Ein Zugeständnis an uns Europäer. Japanische Pilger würden diesen Luxus nicht bekommen.
Am Ende des dritten Tages entzündet er ein Feuer für uns. Unspektakulär sieht es aus, wie ein Lagerfeuer zu Schulzeiten, aber es hat eine viel größere Bedeutung. Der Sprung durch die Flammen symbolisiert unsere Wiedergeburt, unser altes Leben verbrennt in der Hitze. So extrem wird der Effekt bei mir wohl nicht sein. Meister Katos Strenge hat mich auf der Sinnsuche manchmal eher behindert als angespornt. Was bleibt, sind aber Tage, an denen ich auf meine ursprünglichsten Bedürfnisse zurückgeworfen wurde und mich deswegen selbst ein kleines Stück besser kennengelernt habe.