Von Lilienthal bis „Lady Agnes": Ein Ausflug ins Westhavelland ist auch eine Reise durch die deutsche Luftfahrtgeschichte. In Kleßen kann man sich der Vergangenheit auf spielerische Weise nähern.
Ein Bett im Kornfeld? Das Westhavelland hat noch etwas viel Besseres zu bieten: ein Flugzeug im Maisfeld. Wenn man sich dem Flugplatz in Stölln von Süden her nähert, taucht mitten in der Landschaft auf einmal eine riesige Passagiermaschine der Interflug vom Typ Iljuschin II-62 auf. Eigentlich ist der Flugplatz nicht mehr als eine unbefestigte Graspiste, auf der unter der Woche die Kühe grasen und die hauptsächlich Segelflugzeugen und kleineren Motorfliegern vorbehalten ist. Doch im Oktober 1989 wurde zu Ehren von Otto Lilienthal, der das Gelände einst für seine Erprobungsflüge nutzte, ein sehr viel größeres Flugzeug nach Stölln überführt.
„Das würde heute in dieser Form sicher nicht mehr genehmigt werden", sagt Torsten Stalmann, stellvertretender Vorsitzender des Otto-Lilienthal-Vereins Stölln, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Andenken des Flugpioniers zu bewahren. Normalerweise bräuchten solche Maschinen eine deutlich längere Landebahn. Der verantwortliche Flugkapitän Heinz-Dieter Kallbach hatte aber zum Glück reichlich Erfahrung mit unbefestigten Pisten in Afrika gesammelt. Nach nur 840 Metern brachte er die Iljuschin inmitten einer großen Staubwolke zum Stehen. „Es war eine fliegerische Meisterleistung", sagt Stalmann. Nach Lilienthals Frau wurde das Flugzeug später „Lady Agnes" getauft. Es dient heute als Museum und erfreut sich darüber hinaus auch als Standesamt großer Beliebtheit. „Viele von denen, die sich dort trauen lassen, haben selbst die Fliegerei als Hobby oder als Beruf", erzählt Torsten Stalmann. Einmal sei eine ganze Hochzeitsgesellschaft per Flieger angereist und nach der Trauung wieder abgehoben. „Da bekommt der Ausdruck ,im siebten Himmel sein‘ doch gleich noch eine ganz andere Bedeutung", meint er.
Seit der Bundesgartenschau 2015 in der Havelregion gibt es außerdem ein kleines Café und eine Ausstellung zur Geschichte der DDR-Fluglinie Interflug. Im Ort ist man stolz auf seine Luftfahrtgeschichte. Da Stölln der einzige noch in Betrieb befindliche Platz ist, den Otto Lilienthal einst nutzte, bezeichnen die Bewohner ihren Flugplatz gern auch als den ältesten der Welt.
Otto Lilienthal nutzte das Gelände für seine Probeflüge
Im Jahr 1893 verlegte Lilienthal seinen Hauptübungsplatz ins Ländchen Rhinow, wie diese Region ganz im Westen Brandenburgs auch bezeichnet wird. Die Flugbedingungen waren dort ideal, vor allem am Gollenberg, der damals noch nicht bewaldet war. Dennoch kam es am 9. August 1896 zur Tragödie, Lilienthal stürzte ab: „Mit einem Mal kriegte der Apparat eine Neigung nach vorne und sauste runter, schlug auf, und das Unglück war passiert", wird der Vorfall im Lilienthal-Centrum in Stölln geschildert, das sich mit Lilienthals Leben und den Anfängen der Fliegerei beschäftigt. Tags darauf verstarb er in einem Berliner Krankenhaus, ohne vorher noch einmal zu Bewusstsein gelangt zu sein. Auf dem Gollenberg erinnert heute ein Denkmal, auf dem Lilienthal mit weit ausgebreiteten Schwingen zu sehen ist, an seine Pionierleistung. Wer sich danach noch traut, kann bei der örtlichen Flugsportvereinigung auch selbst einen Rundflug im Segelflugzeug wagen.
Mit 110 Metern ist der Gollenberg der höchste Berg im Landkreis Havelland und bietet einen weiten Blick über die umliegende Landschaft. Überhaupt ragt der Höhenrücken des Ländchens Rhinow wie eine Insel im Meer aus den feuchten Niederungen des Havelländischen Luchs empor. Jahrhundertelang befand sich dort eine ausgedehnte Moor- und Sumpflandschaft, die erst ab 1749 unter Friedrich dem Großen nach und nach trockengelegt und urbar gemacht wurde. Der Kolonistenhof in Großderschau zeigt die Geschichte dieser Kolonisierung. Die Menschen, die sich im Rhinower Raum ansiedelten, stammten aus der Pfalz, aus Mecklenburg oder dem heutigen Polen; weil das Land nur wenig Ertrag abwarf, waren sie anfangs von allen Abgaben und vom Kriegsdienst befreit. Auf dem Kolonistenhof kann man neben historischen Gerätschaften auch traditionelle Handwerkskunst erleben und sich zum Beispiel nach vorheriger Anmeldung selbst einmal beim Buttern versuchen. Zudem gibt es einen Plattdeutschen Zirkel, um diese besondere Mundart der Region zu bewahren. „Früher war das Havelländische verpönt und galt als unfein. Dabei ist es eine so herzensgute Sprache. Manche Dinge kann man auf Hochdeutsch gar nicht so schön ausdrücken", sagt Helga Klein, die Vorsitzende des Heimatvereins.
Mit dem Fahrrad geht es von Stölln und Großderschau aus in Richtung des benachbarten Ländchen Friesack – ein weiterer Höhenrücken im ansonsten platten Land. Die Ausschilderung der Radwege ist vorbildlich. Ansonsten ist die Region touristisch allerdings noch wenig erschlossen – Einkehrmöglichkeiten sucht man unterwegs vergebens. Vorbei an der niedlichen Fachwerkkirche in Görne führt die Route weiter nach Kleßen, das mit dem Schloss derer von Bredow sowie dem Spielzeug- und Kinderbuchmuseum mit einem ganzen Kulturensemble aufwartet.
Region touristisch wenig erschlossen
Das Spielzeugmuseum ist in der ehemaligen Schule beheimatet. Die langjährigen Spielzeugsammler Hans-Jürgen Thiedig und Claus-Peter Jörger aus Berlin haben ihre beiden Sammlungen aus den vergangenen 150 Jahren Kinderstube in das Museum eingebracht. „Bis zum Ersten Weltkrieg kam der Großteil des weltweiten Spielzeugs aus Deutschland", erklärt Museumsleiter Frithjof Hahn. Zu sehen sind unter anderem altes Blechspielzeug, Puppen und Kasperlefiguren, historische Brettspiele und Modelleisenbahnen. Direkt nebenan befindet sich seit diesem Jahr das Kinderbuchmuseum, das die 300-jährige Geschichte deutscher Kinderbücher darstellt. Man stößt auf Klassiker wie „Die Häschenbande" oder die Figur des Mecki, aber auch auf ein Buch von Schauspielerin Josephine Baker, die in den 20er-Jahren sonst eher für ihre Tänze mit Bananengürtel bekannt war. Auch das Spielzeugmuseum ist für Jung und Alt gleichermaßen faszinierend. „Die meisten Besucher kommen ursprünglich wegen der Kinder, sind dann aber selbst begeistert, wenn sie ihr eigenes altes Spielzeug von früher wiedererkennen", sagt Frithjof Hahn.
Einen Extraraum widmet das Haus der brandenburgischen Spielzeugproduktion, die damals in Deutschland mit führend war. Auch die Idee für den berühmten Anker-Steinbaukasten stammt aus der Mark. Erfunden wurde er 1879 von niemand Geringerem als den Brüdern Gustav und Otto Lilienthal.