Seit über 20 Jahren sitzt sie in der Wilmersdorfer Straße in Berlin, immer an der gleichen Stelle. Wer zu ihr kommt, dem erzählt Sabine Joks etwas über seine Vergangenheit und Zukunft.
Die Wilmersdorfer Straße gehört wahrhaftig nicht zu den ersten Adressen unter den Einkaufsmeilen von Berlin. An den öden Fassaden der bekannten Kaufhäuser, Drogeriemärkte und Fast-Food-Ketten geht der Blick ins Leere und so soll es auch sein, denn Flanieren und Staunen wären Zeitverschwendung. In diesen Konsumkäfigen muss schnell gewühlt, zusammengerafft und gekauft werden. Das prägt. Man isst im Stehen, man trinkt im Laufen und rempelt sich mit Coffee-to-go-Bechern durch die Horden Gleichgesinnter, die nicht geradeaus, sondern auf ihr Smartphone starren. Slalomlauf zwischen den Ständen bibeltreuer Christen, Tierschützern und Internet-Anbietern, am Rand der Fußgängerzone Bettler, die sich trotzig mit schleppendem Schritt in diese Schneise wagen.
Ein wenig versteckt sitzt in einer schmalen Toreinfahrt Sabine Joks auf einem kleinen Schemel. Um sich herum einige Leinwände mit selbst gemalten Bildern. Eine merkwürdige Frau, die dort hockt, stets an der gleichen Stelle, seit Jahren schon. Wer in der Wilmersdorfer Straße einkauft, kennt sie, aber niemand weiß etwas über sie. Sabine sitzt dort so in sich ruhend wie ein Buddha. Tatsächlich ist Frau Joks, die sich hier Ines Tabu nennt, Wahrsagerin. Das erkennt man nicht auf den ersten Blick, ihr Pseudonym klingt eher etwas anrüchig, doppeldeutig. Auch die Botschaft auf dem gelben Pappschild, das sie über ihren Schoß gelegt hat, ist kein Rätsel, keine schwarzen Katzen, Raben, Funkenflug: „Einen schönen Sommer…Möget ihr glücklich sein!“ Aufregend klingt das nicht, ein schlichter Wunsch in ungelenker Handschrift. Nichts Äußerliches lockt an dieser Frau, nur ihre Augen glänzen. So eine wie sie beäugt man misstrauisch aus der Ferne. Manchmal streift sie ein mitleidiger Blick, sagt Sabine, und fast täglich schleiche sich so ein Hier-geht-sowieso-alles-den-Bach-runter-Rentner an sie heran, um sie eine Betrügerin zu schimpfen. Ach, der weiß nichts von ihr und will es auch nicht, der redet mit keiner Wahrsagerin. Er hat seine eigene Vision. Bei Woolworth eine neue Badematte in Blau!
Immerhin wagen zwischen fünf bis zehn Passanten täglich eine Annäherung an Sabine, die sie als Ines Tabu darum bitten, ihre Zukunft aus den über die Jahre schmuddelig gewordenen 78 Tarotkarten vorauszusagen. Die meisten Fragen sind sehr konkret. „Wie steht es um meine Gesundheit?“ „Werde ich eine neue Liebe finden?“ „Wie lange geht das noch mit Corona?“ Aber es sind zunehmend auch Leute dabei, sagt Sabine, die irgendwie aus dem stinknormalen Leben herausgekippt sind. Das Wörtchen „irgendwie“ gebraucht Sabine oft und gerne, weil es entschuldigend umschreibt, was nicht erklärt werden kann oder soll. Alles kam so über sie.
Als junge Frau schlägt sie sich mit Nebenjobs durch
Wie die Nachbarin, die ihr als Jugendliche das Kartenlegen beibrachte. Der Austausch mit dem Unerklärlichen, mit den Botschaften aus einer anderen Welt macht Sabine mehr und mehr Spaß, wohl auch, weil es in ihrer eigenen, wirklichen Welt irgendwie nicht richtig rund laufen will. Aufgewachsen ist sie auf dem Land unweit von Hannover, das mittlere von fünf Kindern, ihre älteren Schwestern sind gut in der Schule, heiraten später, bessere Kreise. Sabine hingegen tut sich schwer, sie ist mit ihren über 1,80 Meter viel zu groß für die erste Liebe und noch nicht bereit für die höhere Bildung, die zum Maß aller Dinge geworden ist. Sie lernt Hauswirtschaft und ist 17 Jahre alt, als der Vater stirbt. Irgendwie ist sie jetzt das schwarze Schaf in der Familie, die Reibereien mit der Mutter nehmen zu, Sabine packt und zieht nach Hannover, wo sie im Umkreis eines Jugendzentrums endlich richtige Freunde findet. Mit denen redet sie gerne, weil man sich zuhört und einander versteht und Musik macht, sich eigene Klamotten näht und kleinbürgerliche Sicherheit nicht mehr so wichtig ist. Sie schlägt sich durch mit Nebenjobs, holt die mittlere Reife nach und will Sozialarbeiterin werden, weil sie irgendwie mit Menschen und deren Problemen gut kann. Sabine arbeitet in vielen Projekten mit und beschäftigt sich mit Esoterik, Psychologie, unbekannten Religionen. Durch Zufall kann sie einen winzigen Laden mieten, und jetzt wird es richtig ernst mit der Wahrsagerei, weil sie Kunden hat und damit auch ein bisschen Geld verdient. Ein Freund, der sie heiraten will, lockt sie 1997 nach Berlin. Es wird nichts mit dem Bund der Ehe, aber Berlin gefällt ihr, weil man dort lockerer ist als in der etwas drögen Leinemetropole. Sogar die Polizei ist freundlicher. Man vertreibt sie nicht, man lässt sie in Ruhe und seit über 20 Jahren sitzt sie fast immer sechs bis acht Stunden in der Wilmersdorfer Straße.
Die Wahrsagerin Ines Tabu gehört von nun an zum Inventar der Einkaufsmeile, und irgendwie passt sie auch genau da hin, sagt sie.
Aus den Tarotkarten liest sie Vergangenheit und Zukunft und ihre beiden Ichs, Sabine Joks und Ines Tabu, glauben ganz fest an die Botschaften des Universums und die weiße, positive Energie. Manchmal liegt sie falsch, das bekennt sie freimütig, aber dann hat die Chemie nicht gestimmt, dann war sie vielleicht nicht aufmerksam genug gegenüber dem Kunden, den sie mehr als Freund behandelt. Angst macht sie niemandem, auch wenn die Karten, die immer das letzte Wort haben, Böses erahnen lassen. Dann formuliert sie lieber vage, spricht davon, dass sich manches noch zeigen wird. Das ist besser so, denn für jede ihrer Wahrsagereien übernimmt sie auch ein Stück Verantwortung. Aus Cassandra wird eine Ratgeberin, die Vertraute, die zuhören kann. Sabine ist eine kluge Menschenfreundin. Nach all den Jahren in der Wilmersdorfer Straße kennt sie die meisten Ängste, Sorgen und Verletzungen ihrer Ratsuchenden. „Wer wahrsagen will, muss zuhören können!“ Das unterscheide sie von den Scharlatanen, die per Telefon oder übers Internet für viel Geld in fünf Minuten das Blaue vom Himmel versprechen, ohne ihr Gegenüber überhaupt gesehen zu haben. „Schon das Zuhören ist ein positives Signal“, sagt sie, und allein dafür scheinen ihr die meisten dankbar zu sein. Und das erfüllt sie mit Stolz und Befriedigung, weil sie macht, was sie immer schon gut konnte und wollte: „ Ich bin ganz Verschiedenes für die Leute. Ich bin Wahrsagerin, Seelsorgerin, Trösterin, Familienersatz, Sozialarbeiterin, manchmal sogar Therapeutin.“ Sabine sagt das nicht eitel, sondern dankbar. Denn sie selbst erkennt sich im Gespräch mit ihren Kunden und fühlt sich aufgehoben, wie sie es nicht immer war und nicht immer ist. Als Wahrsagerin ist sie kein schwarzes Schaf mehr wie einst, sie ist Teil einer Gemeinschaft, die sich gegenseitig hilft und das Schicksal gemeinsam teilt. Sabine kann nicht ohne ihre Kunden und diese nicht ohne sie.
„Wer wahrsagen will, muss zuhören können“
Sabine nimmt am späten Nachmittag ihren Hocker, ihre Bilder, ihr Pappschild und macht sich auf den Weg in ihre winzige Wohnung im Ostteil der Stadt. Die Fenster führen den Blick in einen dunklen Hinterhof. Noch ist die Miete niedrig, mit der Grundsicherung vom Amt kommt sie leidlich über die Runden, sie versichert, ihre Einnahmen aus der Wahrsagerei ordnungsgemäß anzugeben. Andere Probleme liegen mehr auf ihrer Seele. Sabine lebt allein, Verehrer hat sie viele, einen festen Freund hat sie nicht. Sie weiß nicht, ob sie darüber lachen oder weinen soll. Sie könnte auch mit kleinen Männern, aber die wollen keine schwere, 1,87 Meter große Frau. Abends malt sie ihre Bilder: Katzen, Jesus. Auf dem Sofa liegt ein Exemplar von „Psychologie heute“. Man kann sie auch zum Kartenlegen in ihrer Wohnung aufsuchen, aber in der Wilmersdorfer Straße ist sie lieber. Da kennt sie die Leute und freut sich, wenn der Gemüsehändler neben der Einfahrt ihr Obst schenkt oder eine Frau ihr Pralinen zusteckt oder ein Fläschchen Parfüm. Daran denkt sie, und dann ist ihr nicht mehr zum Heulen zumute nach einem langen Tag, wenn man sie wieder einer Betrügerin genannt hat oder sie in der Fußgängerzone mitansehen musste, wie entnervte Mütter ihre Kinder schlagen. In der Wilmersdorfer Straße zieht an ihr das Leben der anderen vorbei. „Ich habe Männer gesehen, die früher da im feinen Anzug herumgelaufen sind. Heute sammeln sie Flaschen aus den Abfallkörben.“ Und deshalb sagt sie: „ Mir geht es gut.“ Sie träumt davon, irgendwann aufs Land zurückzukehren, wo es ruhiger ist, wo sie Tiere um sich hat wie in ihrer Kindheit. Nach Afrika möchte sie mal, nach Jerusalem und sich intensiver mit dem Buddhismus auseinandersetzen. Aber sie weiß nicht, ob diese Wünsche in Erfüllung gehen. Dann steht sie mitten in der Nacht auf und legt sich selbst die Karten. Was liest sie daraus? „ Mit der Liebe wird’s noch was und mit einer neuen Wohnung. Und meine Schulden werd ich los. Zehn Jahre mache ich das noch in der Wilmersdorfer. Leute auffangen. Mir geht’s besser.“
Sie muss es wissen. Die Karten lügen nicht.