In Zeiten, in denen die Parteien schwächeln und Bürger sich von den Politikern nicht mehr repräsentiert fühlen, könnten zufällig ausgewählte Bürgerräte helfen. Sie könnten die Parlamente ergänzen und beraten.
Berlin, im Bundestag: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (78) macht sich Sorgen. Nicht zum ersten Mal beklagt er in einer Rede, dass die Bindung zwischen Wählern und Gewählten schwächer geworden ist, dass die Kraft der Parteien, die für eine parlamentarische Demokratie wichtig sind, schwindet. „Das Prinzip der Repräsentation steht unter Druck. Es scheint nicht mehr hinreichend in der Lage, die Bürger zu erreichen.“ Die Kritik aus populistischen Kreisen richte sich gegen „vermeintlich abgehobene Eliten“. Angesichts der Herausforderungen einer globalisierten Welt drohe Politik nicht mehr zu den Bürgern durchzudringen.
Könnte da mehr Bürgerbeteiligung helfen? Volksabstimmungen wie in der Schweiz lehnt Schäuble ab. Aber er bringt sogenannte Bürgerräte ins Spiel. Es gehe „nicht um eine Alternative zur parlamentarischen Demokratie“. Der Bürgerrat wäre „eine Art Kompromiss zwischen einer reinen parlamentarischen Demokratie und einer mit Plebisziten“.
Ortswechsel: Berlin Tempelhof-Schöneberg. In allen sieben Ortsteilen des Bezirks Tempelhof-Schöneberg (351.000 Einwohner) wurden ausgeloste Bürgerräte einberufen, die zwei Tage lang über ihren Kiez beraten. Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler: „Das Modellprojekt ist ein modernes Instrument der Bürgerbeteiligung und Weiterentwicklung demokratischer Prozesse. Es ist niedrigschwellig, generationsübergreifend, interkulturell und basisdemokratisch.“ Das klingt wie aus dem demokratischen Lehrbuch. Was geschieht da wirklich?
Zufall als Auswahlprinzip
Bürgerräte ermöglichen es ganz normalen Bürgern, als „Experten für ihren Kiez“ die Arbeit der Verwaltung durch ihre Perspektive inhaltlich zu bereichern. Kalkül ist es dabei, dass durch die Zufallsauswahl gezielt nicht die „üblichen Verdächtigen“ zu Wort kommen, sondern Menschen, die keine organisierten Interessen vertreten oder eine politische Agenda verfolgen.
Angestoßen hat die Idee, Bürgerräte zu bilden, die Initiative „Nur Mut“: Fünf Aktivistinnen aus dem Stadtteil hatten sich 2006 im österreichischen Vorarlberg, wo Bürgerräte in der Landesverfassung stehen, informiert, kamen nach Tempelhof zurück und stießen bei Bezirksbürgermeisterin Schöttler auf offene Türen. Ende August 2019 begann die erste Gruppe mit der Arbeit. Die wissenschaftliche Begleitung übernahm Daniel Oppold vom IASS (Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam), ein Experte für Workshops und Beteiligungskonzepte.
„Es gibt viele Beteiligungszugänge für organisierte Interessengruppen“, sagt Oppold, „aber bisher eben kein Instrument, das die bunte Mischung der Bevölkerung widerspiegelt und unmittelbar in die Gestaltung von Politik einbezieht.“ Die Methode schließe aus, dass sich die „üblichen Verdächtigen“ in den Vordergrund drängen: Umweltaktivisten, Veganer, Hausbesetzer oder Ausländerfeinde. „Es werden zufällig ausgewählte Bürger aus dem Melderegister eines Stadtteils ausgewählt“, erläutert der Politikwissenschaftler, „und darum gebeten, die Bezirksbürgermeisterin zu einer Fragestellung zu beraten. Der mehrstufige Prozess des Bürgerrates stellt sicher, dass diese Zufallsbürger gemeinsam Empfehlungen entwickeln, welche die Sichtweisen ganz normaler Bürger widerspiegeln – und eben nicht die von organisierten Interessengruppen oder Aktivisten, die für ein spezielles Thema kämpfen.“ Die Zufallsauswahl sollte allerdings zu gleichen Anteilen aus Frauen und Männern bestehen und auch alle Altersgruppen berücksichtigen.
In Tempelhof-Schöneberg lautete der Auftrag an die Gruppen eher allgemein und positiv formuliert: „Wie können wir den Ortsteil lebenswert erhalten und die Zukunft gemeinsam gestalten?“ Natürlich sollte klar sein, so Oppold, dass Bürgerräte nur Empfehlungen abgeben. „Allerdings gehört dazu, dass die Verwaltung eine klare Rückmeldung gibt, warum etwas funktioniert oder nicht.“ Der Mitwirkungsspielraum müsse erkennbar sein, damit sich nicht die Illusion einschleicht, man könne ja doch nichts entscheiden, das sei alles eine Alibi-Veranstaltung. „Das Besondere ist eben, dass hier die Politiker auf eine ungefilterte Sichtweise von außen treffen.“ So sei von den Bürgerräten in Tempelhof-Schöneberg aufgedeckt worden, dass der Bezirk ein erhebliches Kommunikationsdefizit hat – die Informationen über das Verwaltungshandeln dringen zu den Bürgern nicht durch. Es gebe beispielsweise eine Reihe von Angeboten für Jugendliche, aber niemand weiß so richtig darüber Bescheid. „Die Erkenntnis daraus: Wer die Leute erreichen will, muss die Vielfalt der Informationskanäle von Instagram bis Podcast und interaktiver Webseite nutzen.“ Einmal im Monat ein Mitteilungsblatt aushängen oder verteilen reiche eben nicht aus. Inzwischen hat der Bezirk eine Stabsstelle Dialog und Beteiligung.
Ein Schwachpunkt scheint aber noch die Gewinnung von zufällig ausgewählten Freiwilligen zu sein. „Wir mussten bis zu 500 Personen aus den Melderegistern auswählen und anschreiben, um eine Gruppe von zehn, 15 Personen zusammenzubekommen.“ Natürlich seien Hinderungsgründe wie zu wenig Zeit oder Überlastung zu akzeptieren. Aber wenn am Ende dann doch die kommen, die sich sowieso engagieren, sei das auch nicht ganz Sinn der Sache. Oppold: „An dem Verfahren müssen wir noch weiterarbeiten.“ Aber eines sei erkennbar bei den ausgewählten Bürgern: Sie kämen als Individuen, nicht in einer Funktion, und das bedeutet: „Sie sind offen, sie können sich auch in andere hineinversetzen.“
„Zufallsbürger“ spiegeln gesamte Bevölkerung wider
Im vergangenen Jahr trat erstmals auf nationaler Ebene ein „Bürgerrat Demokratie“ zusammen: 152 zufällig ausgewählte Menschen aus ganz Deutschland. Er sollte Empfehlungen zur Weiterentwicklung des demokratischen Systems entwickeln. Tatsächlich wurde im November 2019 ein Gutachten mit 22 Punkten abgegeben. Darin wurde empfohlen, den Bürgerrat auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen und ein Lobbyregister einzuführen. Das Thema Wahlrechtsreform wurde ausgeklammert –
zu kompliziert, hieß es. In den Corona-Zeiten ist es untergegangen, aber in diesem Juni ist unter der Schirmherrschaft von Wolfgang Schäuble ein weiterer Bürgerrat eingesetzt worden. Sein Thema: „Deutschlands Rolle in der Welt“.
Obwohl es scheint, dass Bürgerräte auf kommunaler Ebene mehr erreichen können als in nationalem Maßstab, zeigen Beispiele aus Frankreich und Irland, dass mit diesen Räten auch da gute Erfahrungen gemacht werden können. Präsident Emmanuel Macron halfen sie aus der Gelbwesten-Krise. Fachleute, die Umweltministerin, Gewerkschafter, Bürger erarbeiteten in insgesamt sieben Sitzungen von Herbst 2019 bis Januar 2020 Empfehlungen, von denen sie einige an die Spitze stellten, wie etwa: Klima- und Umweltschutz in der französischen Verfassung festzuschreiben und mit dem sogenannten Ökozid einen Straftatbestand für Umweltzerstörung zu schaffen. In Irland hat 2014 eine Bürgerversammlung Referenden zur gleichgeschlechtlichen Ehe vorbereitet und zur Frage, ob Abtreibung erlaubt sein soll. Eine Mehrheit der Iren sprach sich schließlich dafür aus, Abtreibung und Homo-Ehe zu ermöglichen.
Viele Politiker haben es selbst zugegeben: In den Corona-Zeiten hat die Politik in Deutschland gerade am Anfang, als das Land in den Lockdown ging, oft zu schnell, falsch und unflexibel entschieden. Bürgerräte, die den Sinn einiger dieser Maßnahmen öffentlich in Frage gestellt und damit eine Diskussion herbeigeführt hätten, wären vielleicht ein Mittel gewesen, dem entgegenzuwirken. Und nicht bei vielen ein Gefühl der Ohnmacht entstehen zu lassen, das sich dann in wütenden Protesten entlud.