Nach dem Nawalny-Schock scheut die EU vor harten Russland-Sanktionen zurück
Es ist ein Szenario, das an den Kalten Krieg erinnert. Berlin wird zum Refugium für Politiker und Künstler aus dem postsowjetischen Raum. Der prominente russische Dissident Alexej Nawalny kommt in der deutschen Hauptstadt nach einem fast tödlichen Anschlag mit dem militärischen Nervengift Nowitschok wieder zu Kräften. Für die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja wird bei einem Besuch der rote Teppich ausgerollt. Die Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erholt sich in der Spree-Metropole vom Psychoterror des Lukaschenko-Regimes.
Die magnetische Anziehungskraft Berlins liegt zum einen am politischen Gewicht Deutschlands, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Zum anderen gilt Bundeskanzlerin Angela Merkel für Abweichler aus dem autokratisch regierten Osten als demokratischer Leuchtturm. Auf die Frage, warum sie aus dem litauischen Exil nach Berlin reiste, erklärte Tichanowskaja: „Der Hauptgrund ist Merkel. Sie ist eine der wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Welt. Nach ihrer Ansicht besteht die Rolle Deutschlands darin, Konflikte zu lösen.“ Die Kanzlerin ist nicht nur Gegenmodell zum Putinismus. Als frühere DDR-Bürgerin wird ihr auch die profunde Kenntnis der Verhältnisse in Russland zugebilligt.
Merkel hat zwar nach der Attacke auf Nawalny Klartext geredet: Sie sprach mit Blick auf Moskau von einem „versuchten Giftmord“. Dies ist eine Abkehr von dem bislang ausbalancierten Kurs, der eine Mischung aus Distanz und pragmatischer Kooperationsbereitschaft war. Doch auch wenn für die Bundesregierung feststeht, dass die Verwendung eines hochkomplexen Kampstoffs wie Nowitschik nur durch die Billigung höchster staatlicher Stellen möglich war: Vor der letzten Konsequenz schreckt sie zurück. Beim Gas-Pipeline-Projekt Nord Stream 2 zwischen Russland und Deutschland wird nicht der Stecker gezogen.
Sowohl im Bundeskanzleramt als auch im Außenministerium ist man sich sicher: Nawalny sollte ausgeschaltet werden – als zynischer Einschüchterungs-Coup für alle Kritiker von Präsident Wladimir Putin. Merkel und Außenminister Heiko Maas haben zwar kurzzeitig den Stopp von Nord Stream 2 ins Spiel gebracht, aber am Ende doch verworfen. „Wir würden uns selbst bestrafen“, heißt es heute. Auch deutsche Unternehmen wie Wintershall Dea oder Uniper könnten hohe Schadenersatzforderungen geltend machen.
Dennoch: Die Kündigung von Nord Stream 2 hätte Putin, dessen wichtigste wirtschaftliche Trumpfkarten die Exporte von Öl und Gas sind, an einem sehr wunden Punkt getroffen. Reise- und Kapitalbeschränkungen für russische Oligarchen hätten ihm zwar nicht ganz so zugesetzt, wären aber ebenfalls schmerzhaft gewesen. Die Milliardärskaste liebt Luxusimmobilien in London oder Monaco und Jacht-Ferien in westlichen Gewässern. Stattdessen baut Deutschland auf EU-weite Sanktionen gegen hochrangige russische Geheimdienstleute und Verantwortliche für chemische Waffen. Es sind Strafmaßnahmen mit angezogener Handbremse.
Besonders beeindrucken wird Putin das nicht. In Brüssel, Berlin oder Warschau weiß man das. „Die Zukunft der Beziehungen mit Russland wird nicht rosig sein“, sagt ein hochrangiger europäischer Diplomat. „Moskau setzt seine Interessen knallhart durch – zur Not auch mit militärischen Mitteln wie in der Ukraine oder in Syrien.“
Die Bundesregierung scheut aber noch immer die schonungslose Analyse. „Wir brauchen Moskau für die Lösung der drängenden Regionalkonflikte – egal ob Libyen oder Bergkarabach im Kaukasus.“ In Berlin hört man derlei Sätze oft.
Doch die Vision von einer strategischen Partnerschaft mit Russland ist – spätestens nach der Krim-Annexion – Wunschdenken. Bei der Suche nach politischen Kompromissen verhält sich Moskau eher passiv. In Putins Kosmos zählen die Koordinaten der Macht, sonst nichts. Eiserne Kontrolle nach innen und die Renaissance des globalen Akteurs Russland nach außen sind seine Prioritäten.
Der Anschlag auf Nawalny ist für die EU ein weiterer Weckruf. Die Europäer müssen sich darauf einstellen, dass die nächste Herausforderung durch Moskau nur eine Frage der Zeit ist. An irgendeinem Punkt wird das Preisschild aus deutlich härteren Sanktionen bestehen müssen. Je weiter man dies hinausschiebt, desto bitterer wird die Desillusionierung sein.