Schon seit über 30 Jahren zelebriert die Stadt Derry in Irland eine ganze Woche lang Halloween. Dieses Jahr findet das ganze wegen Corona überwiegend online statt. FORUM-Autorin Alexa Christ konnte das Spektakel im vergangenen Jahr noch live erleben.
Taxifahrer Gary stimmt uns schon mal ein. „Die feiern hier Halloween größer und verrückter als den St. Patrick’s Day! Macht euch auf etwas gefasst!“, schwärmt er, während wir die markante, im goldenen Licht der Abendsonne schimmernde Peace Bridge von Derry passieren. Oder besser: Londonderry? Da fängt es schon an. Eine Stadt, zwei Namen. Fragt man die katholischen Bewohner, so heißt die zweitgrößte Stadt Nordirlands natürlich Derry – und zwar schon immer. Ihre protestantischen Nachbarn pflegen dagegen, von Londonderry zu sprechen, seit Londoner Kaufleute im 17. Jahrhundert die heute so berühmte Stadtbefestigung finanzierten. Wie verhält sich da der unbedarfte Urlauber politisch korrekt? Er spricht von Derry – kurz und schmerzlos – weil in diesen letzten Oktobertagen beide Seiten mehr damit beschäftigt sind, sich in möglichst furchterregende Zombies, Hexen, Geister und Dämonen zu verwandeln als einen fruchtlosen Namensstreit auszutragen. Derry feiert Halloween. Nach eigener Aussage größer, bunter und toller als irgendwo sonst auf der Welt! Wobei … blickt man auf die Anfänge dieses schaurig-schönen Spektakels, landet man dann doch wieder beim nach wie vor ungelösten Nordirland-Konflikt.
Bis zu 100.000 Besucher
Das erste Halloween-Fest der Stadt fand nämlich inmitten der sogenannten Troubles statt, jener bürgerkriegsähnlichen Phase zwischen dem Ende der 60er-Jahre und dem Karfreitagsabkommen von 1998, in der es lebensgefährlich sein konnte, sich in bestimmten Gegenden Derrys auf offener Straße zu bewegen. Im katholischen Viertel Bogside etwa hatte die britische Armee 1972 bei einer Demonstration 14 unbewaffnete Bürgerrechtler erschossen. Was als „Bloody Sunday“ in die Geschichte einging, wurde zum Fanal, das fast 30 Jahre währende Gewaltexzesse nach sich zog. „Um das Stadtzentrum lag ein regelrechter Sicherheitsring. Die Straßen waren oft wie ausgestorben“, erinnert sich Brian Doherty, der damals einen Pub in der Magazine Street betrieb und fügt hinzu: „Aber die Leute ergriffen jede Gelegenheit, sich zu amüsieren und über die deprimierende Lage hinwegzutrösten.“ So kam ihm 1985 die Idee, seine Stammgäste zu animieren, sich am 31. Oktober zu verkleiden und eine Halloweenparty zu feiern. Rund 50 ließen sich darauf ein. Es tauchten einige Höhlenmänner und Hulks auf, ein paar Ronald Reagans und sogar eine Margaret Thatcher. Als mitten in die Party eine Bombendrohung platzte, strömten die Menschen einfach auf die Castle Street hinaus und feierten weiter – ein wenig so wie in Beirut, wo immer die heißesten Partys stiegen, je mehr Bomben fielen. „Vor ein paar Jahren fragte mich jemand, ob das die erste Halloween-Parade in Derry gewesen sei“, berichtet Doherty. „Keine Ahnung, habe ich geantwortet, aber im darauffolgenden Jahr kamen alle kostümiert!“ Und nicht nur das. Seit 1986 feiert die Stadt nicht nur eine kleine Pub-Party, sondern ein mittlerweile siebentägiges Festival voller Straßentheater, Konzerte, Installationen, Kostümschauen, Paraden und Feuerwerk. „Wir erwarten bis zu 100.000 Besucher“, sagt Aeidin McCarter vom offiziellen Festival-Organisationsteam. Gut 450.000 Pfund pumpt die Stadt in den Event. Die BBC überträgt in einem stundenlangen Livestream. Shops, Hotels, Restaurants und Kneipen wetteifern um die beste Halloween-Deko. Vor lauter Kürbissen, Dämonenfratzen, Spinnweben, Skeletten und bluttriefenden Messern könnte dem zartbesaiteten Besucher angst und bange werden.
Verstorbene wandeln unter den Lebenden
Dabei gleicht das Treiben tagsüber einem fröhlichen Karneval. Irische Folkbands spielen mit Fiddle, Flöte und Dudelsack zum Tanz auf, Walk-Acts treiben auf Stelzen ihren Schabernack mit ahnungslosen Passanten, Kinder werden in Mini-Zombies verwandelt und fordern grimmig Süßes oder Saures. Am Waterloo Place inmitten der sehenswerten Altstadt kümmert sich ein Food Village um die überaus lebendigen Bedürfnisse der zahlreichen „Untoten“, die in diesen Tagen aus ihren Gruften steigen und dabei einen ganz beachtlichen Hunger entwickeln. Werden an der einen Ecke die „besten Burger Irlands“ angeboten, türmen sich an anderen Ständen Kürbis-Quiche und Salted Caramel Brownies. „Dieses Food Village haben wir im vergangenen Jahr zum ersten Mal organisiert. Bis 2025 wollen wir Derry zu Nordirlands Nummer 1-Destination in Sachen Kulinarik machen“, gibt Aeidin McCarter ambitionierte Ziele heraus. „Deshalb stammen hier alle Streetfood-Stände ausschließlich von lokalen Produzenten.“ Produzenten wie Emily McCorkell. Seit 2010 betreibt die gebürtige Philadelphierin das Catering- und Streetfood-Business „Lo & Slo“ und versorgt die Region seitdem mit echter nordamerikanischer Barbecue-Kultur. Nach zwei Festivaltagen ist ihr Pulled Pork zwar bereits ausverkauft, aber: „Für Halloween haben wir uns etwas Besonderes einfallen lassen“, verrät sie augenzwinkernd und präsentiert eine Glasflasche, die es in sich hat: „Screaming Banshee Hot Sauce“ steht darauf im schlichten Schriftzug, was wir mal mit „Scharfe Sauce à la Schreiende Todesfee“ übersetzen wollen. Das aufgedruckte Symbol von drei Chilischoten lässt erahnen, dass diese Mixtur wahrlich Tote zum Leben erwecken kann.
Und darum geht es schließlich an Halloween, dessen Ursprünge sowohl auf die katholischen Feste Allerheiligen und Allerseelen als auch auf das keltische Neujahrsfest Samhain zurückgehen. Die alten Kelten glaubten, dass an jenem Tag die Tore zum Totenreich offenstehen. Für eine Nacht erhalten die bereits Verstorbenen die Möglichkeit, erneut unter den Lebenden zu wandeln. Weil das den Menschen Angst machte, erhellten sie ihre Häuser mit Lichtern, die sie in ausgehöhlte Rüben steckten. Sie sollten die Toten fernhalten. Als die große Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts dafür sorgte, dass Iren massenhaft nach Nordamerika auswanderten, nahmen sie den Halloween-Brauch mit in die neue Heimat. Dort gab es kaum Rüben, dafür viele Kürbisse. Et voilà, das wichtigste Halloween-Symbol überhaupt war geboren. Auch in Derry scheint es in diesen Tagen überpräsent. Vor der Altstadt-Kneipe „Brickwork“ etwa winkt ein großes aufblasbares Kürbismännchen keck den Vorbeiziehenden zu. Es scheint ihnen den Weg zu weisen hin zu der in Spuckweite liegenden, anderthalb Kilometer langen und acht Meter hohen begehbaren Stadtmauer. Die barocke Befestigungsanlage, die den historischen Kern der Stadt umschließt, ist nicht nur einzigartig in Irland, sie erwacht auch an drei Festival-Tagen stets nach Einbruch der Dunkelheit zu gruseligem Leben. Da sitzt in einem nostalgischen Glasschaukasten ein Mann mit „abgeschlagenem“ Kopf, brüllen drei Metallsaurier mit glühenden, blauen Augen ihren Hunger hinaus, speien ausgemergelte Gestalten Feuer in die Nacht, verbiegen Skelettmädchen ihre Körper und ein gigantischer Lindwurm seinen Schwanz. Einzig ein paar feenhafte Lichtwesen auf Stelzen versprühen eine zauberhafte und völlig „un-gruselige“ Magie.
Auch internationale Abordnungen
Sie haben sich am Bishop’s Gate versammelt, wo der katholisch-jakobitische König James II bei der großen Belagerung Derrys im Jahr 1689 Einlass in die Stadt verlangte und nicht erhielt. Wandert man von dort einmal von außen den westlichen Stadtring entlang, gelangt man in die Waterloo Street, in der sich ein Haar- und Beauty-Salon an den nächsten reiht. Am Morgen des 31. Oktober herrscht hier Hochbetrieb. Kendra Hetherington und Rwoe Winston schminken schon seit 9 in der Früh. 35 Pfund kostet das professionelle Halloween-Make-up. Rwoe ist der Spezialist für alles, was mit Blut zu tun hat. Auch Narben, Wunden und Prothesen kriegt er perfekt hin. Seine Kundin Stecy steht allerdings nicht so auf den Zombie-Look. „Ich gehe dieses Jahr als Narr und möchte eher süß aussehen“, sagt sie. Einen Stuhl weiter sitzt Bronagh Cooper, die sich für eine Art „glamourösen Kürbis-Look“ entschieden hat. Kendra trägt Glitzer-Partikel um ihre Augen auf. Kollegin Maeve ist ausschließlich für Nägel zuständig. Auch sie hat Fingerspitzen bereits mit Kürbissen und fließendem Blut verziert, aber: „Halloween-Nägel halten viel länger als ein Make-up, nämlich etwa drei Wochen. Da muss man schon ein echter Fan sein.“ Von denen gibt es in Derry am Abend des letzten Oktobertages über 40.000 – so viele versammeln sich am Ufer des River Foyle, der die Stadt in Ost und West und protestantisch und katholisch teilt, um dem Höhepunkt des Festivals entgegenzufiebern. Die meisten sind verkleidet. Aus der Menge sticht ein kleiner Donald Trump von vielleicht zehn Jahren, der das Victory-Zeichen in die Luft malt.
Ein Moderator im Waldschrat-Kostüm hält derweil die wartende Menge bei Laune, indem er die Geschichte von zwei streitenden Klingonen erzählt, die er am Vorabend aus einem Taxi fliegen sah. „Das war der lustigste Anblick, den man sich vorstellen kann“, plaudert der Mann, um gleich darauf zu schreien: „Ich glaube, da vorne sehe ich einen Nosferatu kommen – es geht los!“ Derrys große Halloween-Parade setzt sich in Bewegung. Insgesamt 700 Teilnehmer, auch internationale Abordnungen – eine Marching-Band aus den USA, ein Karnevalsverein aus Deutschland – nehmen daran teil. Jubel und ausgelassene Stimmung. Danach explodiert ein Feuerwerk am Himmel, taucht die Nacht in gleißendes Rot, und die Leute auf der Straße sind sich wieder mal einig: „Das war noch besser und größer als letztes Jahr!“