US-Forscher haben im Serum von Senioren eine auffällig hohe Konzentration eines Stoffwechselprodukts namens Methylmalonsäure feststellen können. Diese könnte für einen Anschub des Tumorwachstums und die Beschleunigung der Metastasenbildung verantwortlich sein.
Der gelernte Mediziner und SPD-Gesundheitsexperte Prof. Karl Lauterbach postulierte in seinem 2015 erschienenen Buch „Die Krebs-Industrie: Wie eine Krankheit Deutschland erobert“, dass eine Krebserkrankung im Alter hierzulande fast unausweichlich ist. Allein von den zwischen 1950 und 1970 Geborenen werde jeder zweite die Diagnose Krebs erhalten, was Lauterbach zufolge allein schon darauf zurückzuführen sei, dass die Bundesbürger immer älter werden und Krebs mit steigenden Lebensjahren viel häufiger auftritt. Die krebsfreie Familie werde eine absolute Ausnahme werden, langfristig sei Krebs „die wichtigste Epidemie unserer Zeit, die sich unaufhaltsam ausbreitet“. Oft ist die genaue Ursache von Tumorbildungen nicht nachweisbar oder unbekannt. Sicher ist jedoch, dass einer Krebserkrankung immer Veränderungen des Erbguts zugrunde liegen. Wobei, so der Diplom-Biologe Frank Bernard vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg, entweder die DNA selbst geschädigt ist oder eine fehlgeleitete Regulation dazu führt, dass Gene zu selten oder zu häufig abgelesen werden.
Fehler können, so Bernard, besonders häufig entstehen, wenn eine Zelle ihre DNA vor einer Teilung in zwei Tochterzellen kopiert. Dieses Problem tritt bei der Zellteilung im Alter deutlich gehäuft auf. Die Tochterzellen können daraus resultierende Schäden nicht immer erfolgreich reparieren, was die Basis für bösartige Zellveränderungen werden kann, denen das mit fortschreitenden Lebensjahren an Funktionalität verlierende körpereigene Immunsystem nicht mehr so schlagkräftig wie in jüngeren Jahren entgegentreten kann. Je länger ein Mensch lebt, desto größer können die Mutationen des Erbguts werden. „Damit steigt im Alter die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken“, so Bernard. Schäden am Erbgut können sowohl durch Umwelteinflüsse wie UV-Strahlung entstehen als auch durch falsche Ernährung oder übermäßigen Konsum von Nikotin beziehungsweise Alkohol.
Bei manchen Krebsarten werden die Tumore aggressiver
Für die weit verbreitete Ansicht, dass Tumore im Alter langsamer wachsen, gibt es laut dem DKFZ keine belastbaren Belege. Bei fast allen großen Organkrebsarten ist die Heimtücke des Leidens in allen Altersgruppen nahezu vergleichbar. Bei manchen Krebsarten scheinen die Tumore bei älteren Menschen sogar aggressiver zu werden. Die Behandlung wird häufig zusätzlich dadurch erschwert, dass die Erkrankung zum Zeitpunkt der Diagnose oft schon weit fortgeschritten ist und es daher eine heikle Entscheidung sein kann, dem geschwächten Patienten eine belastende Chemo- oder Strahlentherapie zuzumuten.
In einer im August im Fachmagazin „Nature“ veröffentlichten Studie haben Wissenschaftler des New Yorker Weill Cornell Medical Centers rund um Dr. Ana P. Gomes nun neue Erkenntnisse über die Rolle des (alten) Blutes und speziell eines darin bei Senioren vermehrt vorkommenden Bestandteils für die Förderung des Tumorwachstums ausmachen können. Hintergrund der Überlegungen des Forschungsteams war der Tatbestand, dass es mit zunehmendem Alter auch zu Störungen des Stoffwechsels kommt. Das muss zwangsläufig auch Auswirkungen auf den Gehalt an löslichen Stoffen im Blut haben, wobei die Veränderungen eine steigende Anfälligkeit für unterschiedliche Krankheiten zur Folge haben können. Ausgangspunkt der Studie waren Blutproben von 60 gesunden Probanden, wobei die eine Hälfte unter 30 Jahren alt war, die zweite über 59 Jahre. Nun galt es herauszufinden, ob sich die beiden entnommenen Blutseren-Gruppen in ihrer Wirkung auf Krebszellen unterscheiden. Dazu wurden die Blutseren im Labor mit Kulturen menschlicher Krebszellen in Verbindung gebracht.
Das Ergebnis: Die mit jungem Blut kombinierten Tumorzellen veränderten sich nur unwesentlich. Ganz anders sah das mit den Krebszellen aus, die mit dem Serum der älteren Probanden kultiviert wurden. Denn bei dieser Versuchsanordnung kam es zu einer Änderung der Krebszellform und zur Produktion spezieller Proteine, was beides auch für die Ausbildung von Metastasen typisch ist. Testweise wurden nun zwei klassische Krebsmittel, sprich Chemotherapeutika, namens Carboplatin und Paclitaxel eingesetzt, die wirkkungslos blieben, da die veränderten Krebszellen dagegen resistent waren. Beim anschließenden Tierversuch mit Mäusen bestätigte sich das Ergebnis des Laborversuchs. Mit dem Serum älterer Menschen vorab präparierte Brustkrebszellen bildeten nach Injektion bei Mäusen deutlich mehr Lungenmetastasen aus als nach der Gabe von gleichbehandeltem Blut junger Menschen. „Dies zeigte, dass es im Blut zirkulierende Faktoren gibt“, so die Forscher, „die den Tumorzellen aggressive Eigenschaften verleihen – und die mit dem Alter zusammenhängen müssen.“
Zehn- bis 100-fach höhere Konzentration von Methylmalonsäure
Um herauszufinden, um welche Faktoren es sich dabei genau handeln könnte, wurden im nächsten Schritt die beiden Seren auf den Gehalt von insgesamt 179 Substanzen überprüft. Relevante Unterschiede ergaben sich dabei nur für zehn Ingredienzen, wobei vor allem drei Metaboliten, sprich Substanzen, die als Zwischenstufen oder als Abbauprodukte von Stoffwechselvorgängen des menschlichen Organismus entstehen, in denen Altblut-Seren in deutlich höherer Konzentration vorkamen. Als die Forscher jede dieser drei Substanzen getrennt an Krebszellen zum Einsatz brachten, stellte sich heraus, dass nur die sogenannte Methylmalonsäure (MMS) eine aggressive Reaktion hervorrufen konnte. MMS, das in der Medizin längst als Marker für Vitamin-B12-Mangel genutzt wird, ist ein Molekül, das als normales Zwischenprodukt des Stoffwechsels beim Abbau von Proteinen und Fettsäuren entsteht. Es wird üblicherweise schnell weiterverarbeitet, was in jüngeren Lebensjahren offenbar bestens funktioniert, weshalb MMS in jungem Blut nur in geringer Konzentration vorkommt. Im älteren Serum konnten die US-Forscher eine im Vergleich um zehn- bis 100-fach höhere MMS-Konzentration nachweisen, wofür die altersbedingt nachlassende Aktivität bestimmter Enzyme verantwortlich sein könnte.
Wie die Forscher nach molekularbiologischen Analysen herausfanden, ist MMS fähig, die Aktivität von verschiedensten Genen zu verändern. MMS kann sich im Blut an Blutfette anlagern und wird dann zusammen mit diesen von den Tumoren aufgenommen. Durch MMS wird danach vor allem der sogenannte Transkriptionsfaktor SOX4 der Krebszelle aktiviert, ein Protein, das für die Ausbildung von Metastasen eine zentrale Rolle spielt. „SOX4 gilt als Marker für eine schlechte Prognose“, so die US-Forscher, „weil es zum Tumorwachstum und zur Metastasenbildung beiträgt. Dieses Gen wird bei vielen aggressiven Krebsarten anormal stark exprimiert.“
Die US-Forscher sehen daher in der Blockierung von MMS durch zu entwickelnde neuartige Wirkstoffe ein vielversprechendes therapeutisches Konzept für die Behandlung fortgeschrittener Karzinome. Auch wenn natürlich vorab erst einmal durch weitere Studien überprüft werden muss, ob die mit Zellkulturen und in Tierversuchen erzielten Ergebnisse auch auf die Metastasenbildung beim Menschen übertragbar sind. „Die Akkumulation von Methylmalonsäure stellt einen Zusammenhang zwischen dem Altern und dem Krebswachstum her“, so die US-Wissenschaftler, „und das spricht dafür, dass MMS auch ein vielversprechendes Ziel für Therapien bei fortgeschrittenem Krebs sein könnte.“