Als erster aktiver Spieler der Eisbären Berlin wurde Lukas Reichel in der ersten Runde eines NHL-Drafts gezogen. Der Youngster hat ein Traumlos erwischt.
Lukas Reichel hatte nur vier Stunden geschlafen, doch müde war der Teenager nicht. Am Tag nach dem NHL-Draft strotzte der 18-Jährige nur so vor Energie, seine Augen leuchteten und das Grinsen verschwand nicht mehr aus seinem Gesicht. „Das, was passiert ist, ist mein Traum, mein Leben", sagte der Angreifer der Eisbären Berlin überglücklich. „Mein Lieblingsteam aus Amerika hat mich gedraftet."
Und das war nicht einfach so dahergesagt. Die Chicago Blackhawks, die sich bei der Talente-Wahl in der nordamerikanischen Eishockey-Profiliga Reichels Dienste an 17. Stelle gesichert hatten, waren schon immer der NHL-Club, dem der Berliner die Daumen drückte. Sein Lieblingsspieler war und ist Superstar Patrick Kane, mit dem er bald Seite an Seite auflaufen könnte. „Für mich geht ein Traum in Erfüllung", sagte Reichel. „Wenn ich mir ein Team hätte aussuchen dürfen, wären es die Blackhawks gewesen." So viel Glück haben die Wenigsten, im harten NHL-Business bleibt den Talenten bei der Wahl des Arbeitgebers kaum Mitspracherecht.
Als Youngster ist man ohnehin schon froh, überhaupt in der besten Eishockeyliga der Welt aufgenommen zu werden. Neben Reichel gelangen das in diesem Jahr auch Tim Stützle (Red Bull München), der von den Ottawa Senators sogar an Position drei und damit genauso früh wie Eishockeystar Leon Draisaitl (Edmonton Oilers) gezogen wurde, und John-Jason Peterka (34./Buffalo Sabres).
Reichel ist der erste aktive Eisbären-Profi der Clubgeschichte, der in der ersten NHL-Runde gedraftet wurde. Der Club wertete das als Auszeichnung für die eigene Arbeit und als Stimmungsaufheller in der aktuellen Corona-Krise. „Wir sind sehr stolz auf Lukas. Er hat diese Draftposition absolut verdient", sagte Geschäftsführer Peter John Lee. Beim sechsmaligen Stanley-Cup-Gewinner sieht Lee für Reichel „eine große Chance", der junge Stürmer habe das Zeug, sich mittelfristig auch in der mit Superstars besetzten NHL durchzusetzen.
„Das ist mein Traum, mein Leben"
Wann Reichel sein Abenteuer NHL beginnt, war zunächst offen. Eine neue Regelung sieht eigentlich vor, dass vertraglich noch bei einem europäischen Club gebundene Spieler nicht sofort nach Übersee wechseln dürfen. Da jedoch die Deutsche Eishockey Liga (DEL) ihren Saisonstart bereits ein zweites Mal verschieben musste und weiterhin die komplette Absage der Saison droht, dürfte Chicago bestrebt sein, Reichel so früh wie möglich zu sich zu holen oder in eine europäische Liga zu verleihen, in der der Puck bereits wieder übers Eis fliegt. So oder so: In spätestens zwei Jahren will Reichel in Punktspielen der NHL im Blackhawks-Jersey auf dem Eis stehen, so lautet sein Plan. „Wenn die Blackhawks von mir möchten, dass ich schon vorher an einem Camp teilnehmen soll, dann werde ich das tun", sagt er. Zielstrebigkeit, Lernwille, Fokussierung – all das zeichnet den gebürtigen Bayer neben seinen spielerischen Qualitäten aus. In der langen Corona-Pause arbeitete der junge Mann verstärkt im Kraftraum, um sein körperliches Defizit im Vergleich zu gestandenen Kufencracks zu verkleinern. Mit Erfolg. Sein Gewicht ist von 74 auf 81 Kilogramm gestiegen, das Plus an Masse dürfte ihm im rauen NHL-Alltag, wo gerade aufstrebende Youngster gern mal von sogenannten Enforcer (Vollstrecker) auf ihren Platz verwiesen werden, helfen. Flankiert hat Reichel das Krafttraining mit einer Ernährungsumstellung: „Ich esse fast jeden Tag Spiegel- und Rührei und viel Fleisch."
Um aber ein Schwergicht im NHL-Eishockey zu werden, bedarf es weitaus mehr. Die Anlagen für eine große Karriere hat Reichel. In seiner DEL-Premierensaison gelangen ihm auf Anhieb zwölf Tore und zwölf Assists – das ist eine herausragende Bilanz für einen damals noch 17-Jährigen. Da Reichel auch in der U20-Nationalmannschaft regelmäßig glänzte, stand er bei den NHL-Scouts ganz oben auf der Liste. Maxim Lapierre, der selbst knapp 700 NHL-Spiele auf dem Buckel hat und in Berlin mit Reichel ein erfolgreiches Sturmduo bildet, prophezeit dem Youngster eine große Zukunft: „Er ist vielleicht ein junger Spieler, aber in seinem Kopf ist er schon sehr reif. Er lernt schnell, er versteht alles sofort." Bei Eisbären-Trainer Serge Aubin bekommt Reichel deswegen sogar Verantwortung im Powerplay und Penaltyschießen übertragen, das spricht fürs eine Nervenstärke – und natürlich für seine Extra-Klasse. „Das hilft mir sehr und gibt mir ein gutes Gefühl", sagt Reichel, er betont: „Ich habe aber nichts geschenkt bekommen, sondern musste hart dafür arbeiten".
Ein bisschen was scheint ihm aber doch in die Wiege gelegt worden zu sein, denn Lukas Reichel entstammt einer begabten Eishockey-Familie: Onkel Robert spielte jahrelang in der NHL, gewann mit Tschechien Olympia-Gold und drei WM-Titel; sein Vater Martin war deutscher Nationalspieler, und sein Bruder Thomas (21) steht ebenfalls bei den Eisbären unter Vertrag. Ob vererbt oder nicht: Talent allein bringt niemanden in die NHL, das hat Lukas Reichel längst begriffen. Sein Mantra lautet: „Ich will in jedem Training und in jedem Spiel mein Bestes geben und mich stetig weiterentwickeln." Er schätzt sich selbst als „guten Allrounder im Angriff" ein, aber da geht noch mehr. Langfristig, sagt Reichel, wolle er zu den besten deutschen Eishockeystürmern gehören.
Guter Allrounder im Angriff
Einen Vorgeschmack auf NHL-Spiele hatte Reichel bereits vor einem Jahr erhalten, als die Eisbären im Testspiel ausgerechnet gegen die Chicago Blackhawks antraten. „An dem Tag stand ich meinem großen Idol Patrick Kane beim Bully gegenüber, das war unvergesslich", sagte Reichel. Bis er mit Kane in der NHL in einem Team spielen darf, muss das Talent noch einige Hürden überspringen. Aber die Chancen stehen gut.
Die Eisbären kämpfen derweil mit den Auswirkungen der Pandemie. Ein Vorbereitungs-Turnier in Dresden musste der DEL-Rekordmeister wegen eines Corona-Falls innerhalb des Teams absagen. Die komplette Mannschaft ging für ein paar Tage in Quarantäne und konnte am 11. Oktober gegen Zweitligist Lausitzer Füchse wieder ein Testspiel bestreiten. Die Eisbären gewannen 4:1, im Trikot der Lausitzer lief ein gewisser Thomas Reichel auf. Der Youngster, der in der DEL-Zwangspause dank einer Förderlizenz eine Etage tiefer für die Füchse Spielpraxis sammelt, erzielte sogar ein Tor gegen „seine" Eisbären. Bruder Lukas will bald in der NHL auf Torejagd gehen.