Das Potenzial der Linkspartei ist größer als die bisherigen Wahlergebnisse, ist Dietmar Bartsch, Co-Vorsitzender der Bundestagsfraktion, überzeugt. In der Corona-Krise dringt die Partei mit ihren Themen aber kaum durch. Auf dem Parteitag will sie sich auf den kommenden Bundestagswahlkampf einstellen.
Herr Bartsch, Sie haben 43 Jahre sozialistische Parteipolitik hinter sich. SED, PDS, Linkspartei. War es in diesen Jahren schon mal so schwierig, Schwerpunkte zu setzen wie gerade?
Parteipolitik mache ich erst seit 1991, aber für meine Partei war es in dieser Zeit selten einfach. Denken Sie an die Zeit Anfang der 90er. Da wollten viele von uns nichts mehr hören. Wir haben gesellschaftlich sehr bewegte Zeiten – nicht nur durch die Corona-Pandemie. Da ist zum Beispiel die dringende Frage, wie die Digitalisierung unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt verändern wird. Denken Sie an die Globalisierung mit all ihren Auswirkungen. Auf der einen Seite Hungersnöte, auf der anderen Seite, dieser Wahnsinn der Aufrüstung überall auf der Welt. Nie wurde in Deutschland mehr Geld für Panzer und Kriegsschiffe ausgebeben als heute. Mitten in der Krise! Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Immer mehr Menschen besitzen nichts. Und die Superreichen haben in der Krise 100 Milliarden mehr auf dem Konto als zuvor. Daran sieht man: Das Land braucht eine linke Partei. Wir sind die Sozialstaatspartei.
Die Pandemie macht es für die Linkspartei also nicht gerade einfach, ihre klassischen Themen unterzubringen?
Es ist momentan nicht immer einfach, für soziale Themen Gehör zu finden. Wir wollen diese Gesellschaft verändern, und derzeit haben die Menschen bereits reichlich mit den Corona-Veränderungen beziehungsweise Einschränkungen zu tun. Dazu kommt, dass wir von der Basisarbeit leben, von Veranstaltungen im Kleinen. Unsere Parteiarbeit lebt vom Gespräch mit den Menschen vor Ort, und das geht natürlich derzeit nicht so, wie wir uns das wünschen. Das macht die Sache nicht einfacher.
Doch gerade bei den Massendemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen hätten Sie ja die Chance gehabt, mit ihren Leuten zu sprechen, aber die Linke als Partei war selbst nicht da. Warum?
Am Anfang hat niemand gewusst, wohin die Reise mit diesem Virus geht. Es gab unheimlich viel Unsicherheit, selbst die anerkannten Virologen mussten sich in ihren Annahmen immer wieder korrigieren. Ich war bei den ersten Demonstrationen nicht wenig erstaunt über die Menschen, die dort meinten, sie wüssten alles über Corona und auch, was die Regierung alles verkehrt macht. Dieses Problem ist bis zum heutigen Tag geblieben. Dazu kommt, dass diese Proteste leider, leider, viele Rechte und Rechtsextreme anziehen. Als Linker nimmt man nicht an Demonstrationen teil, auf der Reichsflaggen und Reichskriegsflaggen auftauchen.
Aber Sie müssen doch einräumen, dass auch in der Linkspartei viele die Corona-Maßnahmen als unverhältnismäßig kritisieren, übrigens auch in ihrer Bundestagsfraktion …
Das ist richtig. Auch ich habe einiges am Agieren der Bundesregierung zu kritisieren. Aber nicht nur in unserer Partei, sondern auch in allen anderen Parteien haben sie Menschen, denen gehen die Corona-Maßnahmen nicht weit genug. Die fordern von den Bundesländern und der Bundesregierung, viel restriktiver vorzugehen. Dann haben Sie aber auch eine Reihe von Mitgliedern, auch bei uns, die halten die Maßnahmen für überzogen und pochen auf ihre Freiheitsgrundrechte, was ich teilweise auch gut verstehe. Die klar sagen, es kann nicht sein, dass das Demonstrationsrecht oder bei vielen die Berufsausübung derart eingeschränkt wird. Ich habe gerade in der aktuellen Debatte im Bundestag noch einmal klar gesagt: Wir als Linke müssen allen Grundrechtseinschränkungen sehr, sehr skeptisch gegenüberstehen. Aber umgekehrt dürfen wir die Gesundheit der Menschen nicht gefährden.
Sind die Massendemonstrationen Anzeichen dafür, dass die Menschen draußen auf der Straße – auch Ihre Wähler – die ganzen Maßnahmen nicht mehr verstehen?
Das ist ein Problem, das ich auch sehe und mehrfach kritisiert habe. Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist vielfach ein rein administrativer Akt. Die Kanzlerin bespricht sich mit den 16 Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen, gibt da mehr oder weniger die Marschrichtung vor, und dann setzen die das in ihren Ländern mehr oder weniger um. Letztlich aber eben jeder, wie er es für richtig hält. Das Ergebnis ist leider vielfach ein völliges Durcheinander von Maßnahmen. Vor allem aber fehlt die Transparenz! Es wird nicht erklärt, warum und wieso eine Maßnahme getroffen wird. Das verunsichert die Menschen und führt dann zu solchen Protesten, wie wir sie erleben.
Rechnen Sie denn auf dem anstehenden Bundesparteitag Ihrer Partei mit einer heftigen Corona-Diskussion?
Na ja, wir müssen erst mal schauen, ob wir unseren Parteitag in Erfurt tatsächlich über die geplanten drei Tage durchführen können. Das wird bis zur letzten Minute nicht klar sein und hängt von der Entwicklung der Infektionszahlen ab. Natürlich wird es auf dem Parteitag Debatten geben, schon allein aus dem Grund, dass wir von den üblichen Regularien abweichen müssen. Jeder, der mal einen Parteitag der Linken erlebt hat, weiß, bei uns wird tatsächlich noch um Inhalt gerungen. Da werden keine faulen Kompromisse gemacht. Und, es ist ein Wahlparteitag, wir bekommen eine neue Parteispitze.
Die Linke soll ja nun als erste deutsche Partei eine weibliche Doppelspitze haben …
Die Grünen hatten auch schon eine weibliche Doppelspitze, das waren Frau Radtke und Frau Rösler.
Das ist richtig, aber bei Ihnen schaut man heute ja etwas genauer hin …
Hier kandidieren zwei Frauen, die hoffentlich gut harmonieren werden, die das politische Spektrum der Linken abbilden. Warum nicht eine weibliche Doppelspitze? Das ist auch ein fortschrittliches politisches Zeichen. Entscheidend ist, dass wir 2021 vor einem Superwahljahr stehen: Sechs Landtagswahlen, Kommunalwahlen und eine Bundestagswahl. Wesentliche Weichenstellungen für unser Land.
Grüne und SPD-Führung haben bereits von einem rot-rot-grünen Bündnis gesprochen. Ist das realistisch?
Das entscheidet der Wähler. Grundsätzlich spreche ich nicht von Farben, sondern strebe Mitte-Links-Bündnisse an. Darum geht es, wenn wir eine sozial gerechte Republik wollen. Man darf eines nicht vergessen: In Deutschland gehen aus einer ganzen Generation in den kommenden zehn Jahren viele in die Altersarmut. Darüber spricht derzeit niemand, da Corona alles überlagert. Wir von der Linken sagen ganz klar: Es kann nicht sein, dass eine ganze Generation heute nicht weiß, wovon sie in zehn Jahren leben wird. Wir brauchen eine große Rentenreform, damit niemand in Altersarmut leben muss und der Lebensstandard im Alter gesichert bleibt. Das wird nur in einem Mitte-Links-Bündnis möglich. Auch brauchen wir dringend eine Kindergrundsicherung, die Kinder aus der Armut holt, dazu eine Pflegeversicherung, die tatsächlich die Kosten der Pflege deckt und die Menschen nicht ans Sozialamt verweist.
Aber ist Ihre Partei auf Bundesebene regierungsfähig?
Natürlich. Warum denn nicht? In Mecklenburg-Vorpommern hat es in einer Koalition schon im vorigen Jahrhundert funktioniert, hier in Berlin arbeitet ein Dreier-Bündnis erfolgreich. Bodo Ramelow regiert Thüringen sehr erfolgreich, in Bremen regiert die Linke mit. Die ganze Debatte, ob wir regieren können, nützt doch nur der Union, die dieses Feuer natürlich gerne schürt. Denn nur eine starke Linke kann das Abo der Union aufs Kanzleramt kündigen. Ich bin mir sicher, auf einem Bundesparteitag, auf dem es um Regierungsverantwortung auf Bundesebene geht, werden auch die kritischen Geister in unserer Partei sehen, dass wir unsere Projekte in Regierungsverantwortung eher durchsetzen können als in der Opposition.
Dazu gibt es ein weiteres Phänomen: Linke Themen scheinen nicht en vogue zu sein. Die SPD hat in den letzten acht Jahren fast die Hälfte ihrer Wähler verloren, doch da ist, rein rechnerisch, nicht einer bei Ihnen gelandet …
Oh, linke Themen sollten nicht en vogue sein, sondern linke Themen sind für viele, viele Menschen lebensbestimmend! Ich hatte das schon zu Beginn erwähnt: Die Schere zwischen Arm und Reich geht in Deutschland kontinuierlich seit über 20 Jahren immer weiter auseinander. Heute besitzen zehn Prozent der Bevölkerung doppelt so viel, also zwei Drittel, wie die restlichen 90 Prozent. Da ist etwas völlig aus den Fugen geraten, dass man niemandem mehr nachvollziehbar erklären kann. Die Zahl der Milliardäre und Multimillionäre nimmt zu und die Zahl der Kinder in Armut auch – das ist nicht zu akzeptieren. Dagegen könnte zum Beispiel eine Vermögenssteuer helfen, als Teil einer großen Steuerreform, die Normalverdiener und Familien entlastet.
Noch mal nachgehakt: Die CDU ist massiv in die Mitte gerückt und hat inhaltlich rechts Platz gemacht für die AfD. Die Wählerverluste der CDU sind dort gelandet. Die SPD ist ebenfalls in die Mitte gerückt, doch ihre linken Wählerverluste sind nicht bei Ihnen gelandet?
Da haben Sie in der Beschreibung durchaus recht. Unser Potenzial ist erheblich höher, als unsere Wahlergebnisse. Aber nur in ganz seltenen Fällen schöpfen Parteien ihr Potenzial auch voll aus. Wir als Linke leiden darunter, dass ein Teil unseres Potenzials, das auch von der SPD kommen könnte, derart frustriert ist, das die manchmal nicht mehr wählen gehen. Dazu kommt eine Problematik, die alle Parteien mit sozialem Anspruch betrifft: Menschen mit hohen Einkommen gehen zu fast 100 Prozent wählen und Menschen, die von Sozialleistungen leben müssen, gehen nicht mal zu 40 Prozent wählen. Das ist ein demokratietheoretisches Problem! Dazu kommt, dass die Sozialdemokratie – nicht nur in Deutschland, sondern zum Beispiel auch in Großbritannien – viele Menschen bitter enttäuscht hat. Diese Menschen haben sich von der Politik abgewendet. Schauen Sie sich das Ergebnis der rot-grünen Bundesregierung an: Hartz IV, Leiharbeit, Hedgefonds und Auslandseinsätze der Bundeswehr sind dabei rausgekommen. Und zutiefst enttäuschte Wähler. Diese müssen wir nun als Linke motivieren und versuchen, sie überhaupt erst mal wieder an die Wahlurne zurückzubringen.
Ist das ein deutsches Problem?
Nein. Wie gesagt: Tony Blair hat seine Wähler mit neoliberaler Politik verstört, wo nun am Ende der Brexit steht. Das wäre nie passiert, hätte Blair nicht seine Wähler derart enttäuscht. In Frankreich hat der Sozialist Hollande mitnichten den sozialen Aufbruch in eine gerechte Welt geschafft. Das war enttäuschend für alle europäischen Sozialisten. Aber das Potenzial ist da, und das zeigt zum Beispiel der erste linke Ministerpräsident Bodo Ramelow in Thüringen. Er ist mit über 30 Prozent wiedergewählt worden und ist mit seiner Politik ein Aushängeschild für die Linke und ihre Regierungsfähigkeit.
Aber warum hat dann Bodo Ramelow, der erste linke Ministerpräsident der Republik, im Bundestagswahlkampf nach meinem Eindruck, so überhaupt nicht stattgefunden?
Na, da täuscht Sie Ihr Eindruck, der hat mehr als stattgefunden.
Aber nicht sonderlich prominent …
Sie dürfen doch eines nicht vergessen: So ein Ministerpräsident hat vieles anderes zu tun, als Bundestagswahlkampf zu machen. Dass Bodo Ramelow nicht bei den Großkundgebungen zur Bundestagswahl aufgetreten ist, versteht sich von selbst, denn dafür hatten wir die Spitzenkandidaten.
Apropos, werden Sie denn wieder als Spitzenkandidat in Mecklenburg-Vorpommern antreten und versuchen, das Direktmandat in Rostock zu holen, vielleicht wieder Spitzenkandidat bundesweit?
Zweimal Ja! Ich trete in Rostock für das Direktmandat an und bin auf der Landesliste auf Platz 1 gesetzt, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Wir warten den Bundesparteitag ab, dann legen wir fest, mit welchen Spitzenkandidaten wir in die Bundestagswahl gehen, und dann haben die Wählerinnen und Wähler das Wort oder besser, die Stimme.