Das neue Buch „Die vergessene Heimat" von Deana Zinßmeister ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der Demenzerkrankung ihres Vaters und gleichzeitig eine spannende Aufarbeitung der Flucht ihrer Eltern aus der DDR.
Rund 1,6 Millionen Menschen sind aktuell in Deutschland an Demenz erkrankt. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. In den nächsten Jahren werden diese Zahlen kontinuierlich ansteigen. In erheblichem Ausmaß. Bis 2050 wird mit einer Verdopplung der Erkrankten gerechnet. Und das europaweit. Im Saarland leben rund 23.000 Demenzerkrankte. Auch Ernst Rauscher, der Vater der bekannten saarländischen Schriftstellerin Deana Zinßmeister war davon betroffen.
Über ihn, seinen Lebens- und Leidensweg und vor allem über das, was die Krankheit in ihrer Familie ausgelöst hat, schreibt die Schriftstellerin in ihrem neuesten Roman „Die vergessene Heimat." Keine Autobiografie, jedoch ein Roman mit autobiografischen Zügen. Recherchiert hat sie dafür nicht nur im eigenen Familienkreis, sondern auch vor Ort, in der früheren Heimat ihrer Eltern in der ehemaligen DDR, im ehemaligen Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin und im Demenzverein Köllertal.
Verblüffend offen, authentisch und sehr persönlich schildert die 58-jährige Autodidaktin als Ich-Erzählerin Britta Hofmeister darin die letzten Lebensjahre ihres Vaters. Drei lange, schmerzvolle Jahre, in denen er mit fortschreitender Demenz erschütternde Details von seiner Flucht aus der DDR kurz nach dem Mauerbau im August 1961 preisgibt. Und zugleich drei lange Jahre, in denen die Familie mit Krankheitsverlauf, Nicht-Wahrhaben-Wollen der Tatsachen, Entfremdung, Ängsten, Unsicherheiten und Pflege fast zu zerbrechen drohte.
Die Heusweiler Bestsellerautorin betritt mit diesem Buch literarisches Neuland. Vielen ist Deana Zinßmeister bekannt als Verfasserin historischer Romane: „Das Pestzeichen", „Das Hexenmal" oder „Das Lied der Hugenotten" sind drei Titel ihrer bislang zwölf Bestseller, die allesamt im ausgehenden Mittelalter angesiedelt sind. Mit ihrem neuesten Buch wagt sie den Schritt in die Gegenwart. Wobei der rund 440-seitige Roman in den Jahren 2013 bis 2016 und 1961 spielt und damit auch in die jüngste deutsch-deutsche Geschichte blickt.
Geschickt verknüpft die Autorin darin Realität und schriftstellerische Freiheit und springt zwischen den zwei Zeitachsen hin und her, kombiniert geschichtliche Fakten mit zwischenmenschlichen Dramen.
Zwischenmenschliche Dramen
„Meine Eltern und sieben weitere Familienmitglieder waren nach wochenlangen Vorbereitungen von Ostberlin in den Westen geflüchtet", erzählt sie im Interview. „Die neun waren damals die größte Gruppe, die es geschafft hat, so kurz nach Beginn des Mauerbaus an Grenzschützern, Stacheldraht und Sperrgebiet vorbei unbeschadet in die Freiheit zu fliehen. In unserer Familie kannten wir alle die Fluchtgeschichten in groben Zügen. Doch wirklich detailliert nachgefragt haben ich und meine beiden Geschwister nie. Meine Eltern haben selten von damals erzählt, weil sie über viele Jahre noch Angst vor der Stasi hatten. Wir haben das akzeptiert, weil diese Lebensphase unserer Eltern weit weg war, und wir Kinder alle im Westen geboren sind."
Wie dramatisch und gefährlich die Flucht ihrer Eltern war, und wie der Alltag ihrer Eltern in der DDR um das Jahr 1961 aussah, wurde Deana Zinßmeister erst kurz vor dem Tod ihres Vaters bewusst. Aus den Erinnerungen ihrer Eltern ruft sie diese Zeit des Mangels, des wirtschaftlichen Stillstands, des Misstrauens, der Bespitzelung und der politischen Unsicherheiten, wie sich das Leben im geteilten Deutschland entwickeln würde, wieder ins Bewusstsein. Nicht jedem dürfte im Jahre 30 nach dem Mauerfall noch geläufig sein, was sich damals an der innerdeutschen Grenze abspielte, wie viel Leid und Ängste die deutsche Teilung mit sich brachte. Wie sich die beiden Systeme – Kapitalismus und Sozialismus – belauerten, bekämpften und auseinanderentwickelten. Ohne politisch zu sehr ins Detail zu gehen, gelingt es Deana Zinßmeister, dieses Stück Zeitgeschichte auf der menschlichen Ebene erlebbar zu machen.
„Heute weiß ich, warum auf dem Dielenschrank meines Elternhauses in Lebach immer ein kiloschwerer Bolzenschneider lag, den mein Vater wie seinen Augapfel hütete. Ohne dieses Werkzeug wäre die spektakuläre Flucht meiner Eltern gescheitert."
Richtig unter die Haut gehen die Passagen, in denen Deana Zinßmeister als Britta Hofmeister die Auswirkungen der Demenzerkrankungen auf das Familienleben beschreibt. Die eigentliche Stärke des Romans.
„Unsere Familie drohte an der Erkrankung unseres Vaters auseinanderzubrechen. Wir drei Geschwister gingen ganz unterschiedlich damit um. Mir selbst fiel es schwer zu akzeptieren, dass meinem Vater seine Persönlichkeit Stück für Stück verloren ging. Ich wollte anfangs die Diagnose nicht wahrhaben, war richtig wütend auf meinen Bruder, der so nüchtern über unseren ‚dementen Vater‘ sprach und verlangte, dass wir ‚Formalitäten regeln‘ müssten", erinnert sich die Autorin. „Mein Vater selbst brachte mich manchmal zum Heulen, wenn er zärtlich nach der Hand meiner Mutter griff und sie liebevoll Leni nannte. Im nächsten Moment trieb er mich innerlich zur Weißglut, wenn er so gar nicht mithelfen wollte, sich anzuziehen. Oder wenn er uneinsichtig war, dass er kein Auto mehr fahren durfte und wie verrückt nach dem Autoschlüssel suchte. Ich kannte meinen Vater als weltgewandten, eloquenten, selbstbewussten Menschen, nun musste ich zusehen, wie er auf Raten starb, sich zu einem Kleinkind zurückentwickelte. Ich fühlte mich oft ohnmächtig, hilflos, alleingelassen. Unsere Mutter brach unter der Last der Pflege und der Sorge um ihren Mann irgendwann zusammen. Und wir Geschwister stritten mehr, als dass wir zueinanderstanden."
„Ich musste zusehen, wie mein Vater auf Raten starb"
Im Roman und im wahren Leben musste die Familie Entscheidungen treffen, die schmerzvoll, konfliktreich waren, aber letztlich dem Wohle aller dienten. Mit diesen weitgehend authentischen Erzählungen offenbart die Romanautorin sehr viel Persönliches. Lässt die Leser nah an sich herankommen. Vor allem aber zeigt sie in gut lesbarer Form, wie die Demenz in das Leben des Betroffenen und seiner Angehörigen hineinwirkt. All jene, die Ähnliches erlebt haben beziehungsweise am Beginn eines ähnlichen Leidensweges mit ihren Eltern oder eines nahen Angehörigen stehen, werden sich in dem Roman wiederfinden.
„Hilfe fanden wir in all den Jahren beim Demenzverein im Köllertal. Kompetente, mitfühlende und tatkräftige Ansprechpartner erklärten uns, wie sich Demenz auf die Persönlichkeit des Betroffenen und auf die Psyche der Angehörigen auswirkt. Ganz wichtig für uns waren die Gesprächsrunden mit anderen betroffenen Angehörigen. Hier merkten wir, dass wir auch unsere Ängste, Wut und Verzweiflung, mit denen wir auf die Erkrankung unseres Vaters reagierten, zulassen durften. Dieser Austausch half uns Geschwister, uns in die Sichtweise des anderen hineinzuversetzen, die Demenz unseres Vaters zu akzeptieren und letztendlich uns miteinander auszusöhnen."
Zur Aussöhnung aller Geschwister leistete auch das Buch einen wichtigen Beitrag. „Nach der Beerdigung unseres Vaters dauert es eine Zeit lang, bis wir wieder unbefangen und ohne Groll aufeinander zugehen konnten. Die Lebens- und Leidensgeschichte unseres Vaters miteinander zu rekapitulieren und öffentlich zu machen, hat uns wieder einander näherrücken lassen und uns gezeigt, wie sehr wir miteinander verbunden sind, und wie zuverlässig wir zueinanderstehen. Mittlerweile steht bei jedem von uns drei Geschwistern wieder ein Porträtfoto unseres Vaters, Besuche an seinem Grab absolvieren wir gemeinsam, ohne Anspannung, dafür in liebevollem Erinnern."
Als einen Ratgeber für Betroffene will Deana Zinßmeister ihren Roman, der mittlerweile auf der „Spiegel"-Bestsellerliste steht und in die zweite Auflage geht, nicht verstanden wissen, auch wenn die Autorin mittlerweile überschüttet wird von Anfragen vieler interessierter Angehöriger von Demenzerkrankten.
„Aber das Buch soll Angehörigen Mut machen, dass auch sie schwierige Situationen meistern können, und dass sie sich trauen sollen, Hilfe und Unterstützung anzunehmen, bevor sie selbst von der Demenzerkrankung ihrer Lieben aufgefressen werden."